Andreas Steinhofel
Glass mich
an, und die vertrauten Züge ihres Gesichts scheinen sich neu
anzuordnen. Stirn und Mundwinkel sacken herab, und in die
weit aufgerissenen Augen tritt ein Ausdruck von solcher
Bestürzung, dass ich den verrückten Impuls verspüre, laut
aufzulachen – ich fühle mich schrecklich, denn die ganze Sache
ist schrecklich, aber es gibt schlimmere Katastrophen als eine
betrogene oder verlorene Liebe, und selbst beides
zusammengenommen dürfte nicht Anlass für eine solche
Reaktion sein.
Als hätte man dir die Haut vom Fleisch gerissen und dich
danach mit Salz eingerieben.
Die Worte drängen in meinen Kopf, stimmlos, tonlos,
sprachlos, eher wie die Bildfetzen einer aus Sprache geborenen
Erinnerung – eine Erinnerung von Glass. Eine alte Erinnerung
noch dazu, sie ist abgegriffen, wie es ein viel betrachtetes Foto
an den Rändern ist, und auch die Farben sind verblasst wie auf
einem alten Foto, merkwürdig verwaschen und sepiafarben.
»… oder könntest du dir vorstellen, ihn mit Kat zu teilen?«,
fragt Glass.
Ich bin mir sicher, dass der erste Teil des Satzes mir
entgangen ist, sicher auch, dass mir soeben meine Phantasie
oder meine Müdigkeit einen Streich gespielt hat, denn Glass
sieht mich immer noch an, und ihr Gesicht zeigt kein Zeichen
von Bestürzung oder Betroffenheit. Da ist nur waches Interesse,
dahinter eine Spur von Mitgefühl. Auf ihre Frage schüttele ich
heftig den Kopf.
»Nein, dumm von mir, wer könnte das schon«, murmelt sie.
»Ich dachte nur… Vielleicht ist es das, was Nick will. Es muss
nichts zu bedeuten haben, dass er mit Kat geschlafen hat. Es
kann eine einmalige Sache zwischen den beiden gewesen sein.«
»Das glaube ich nicht.«
Glass zuckt die Achseln. »Vielleicht ist er gar nicht schwul.
Oder vielleicht empfindet er für Männer dasselbe wie für
Frauen. Hast du daran schon gedacht?«
»Ja. Und wenn es so wäre, würde ich ihn trotzdem nicht mit
Kat teilen wollen. Genauso wenig, wie Kat dazu bereit wäre,
ihn mit mir zu teilen. Eher würde die Hölle zufrieren.«
»Gib mir deine Hand, Phil.«
Glass streichelt den wispernden Schaum und die tropfende
Nässe von meinem Handrücken. Es ist eine ihrer seltenen
körperlichen Zuwendungen, von denen ich früher geglaubt
habe, dass Dianne und ich so wenig davon erhielten, weil ihre
Liebhaber so viel davon für sich beanspruchten.
»Es ist nicht fair«, flüstere ich.
»Das ist es nie, Darling.«
»Was sollich tun?«
Wie oft wurde Glass diese Frage schon gestellt – einhundert
Mal, zweihundert Mal? Noch öfter? Und wie oft habe ich ihre
Antwort auf diese Frage gehört, wenn ich mit Dianne,
spätabends oder nachts, unter dem Küchentisch ihre Gesprächen
mit den Kundinnen belauschte?
»Was bist du dir wert, Phil?«
»Ich weiß nicht.«
»Wen liebst du mehr, dich selbst oder ihn?«
»Ich weiß nicht.«
Glass lässt meine Hand los und steht auf. »Nun, sobald du es
weißt, hast du kein Problem mehr.«
»Danke für die großartige Hilfe!«
»Gern geschehen.« Ihr Blick wird weich. »Ich meine es ernst,
Phil. Mach dich nicht klein, nur weil du Nicholas nicht verlieren
willst.« In der Tür dreht sie sich noch einmal zu mir um. »Und
bleib nicht ewig lang in der Wanne sitzen, Darling. Du wirst
ganz schrumpelig.«
Ich warte, bis ihre Schritte draußen im Korridor verklungen
sind, dann schließe ich die Augen. Ich atme tief ein, halte die
Luft an und lasse mich nach unten gleiten. Wasser und Schaum
schwappen über mir zusammen. Ich lausche dem vielfach
verstärkten, dröhnenden Knarren und Flüstern Visibles, dem
metallischen Knacken in den alten Rohrleitungen, höre das
pulsierende Rauschen, mit dem das Blut durch meine Adern
strömt. Irgendwann drohen meine Lungen zu bersten. Vor
meinen Augen beginnen rote Flecken einen wiegenden Tanz.
Auf Pascals Karte steht: Wie lange willst du noch den
Zuschauer spielen und dich dabei selbst bemitleiden? Gute
Besserung.
Ich tauche wieder auf, sehr langsam.
AM SPÄTEN DONNERSTAGVORMITTAG, als Glass in
der Kanzlei und Dianne bei Kora ist, klingelt es an der Haustür.
Ich stürze aus meinem Zimmer, stolpere die Treppe hinab in die
Eingangshalle, getrieben von der vagen Hoffnung, es sei
Nicholas, der den Weg einen Tag früher als geplant hierher
gefunden hat.
Kälte schwappt mir entgegen, als ich die Tür öffne. Draußen
steht ein Junge ungefähr meines Alters. Er trägt schwarze Jeans
und einen dunklen Mantel. Sein Gesicht ist so bleich, dass es
mit dem
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