Andreas Steinhofel
eine helle, klare Flüssigkeit. Sie klebt
auf seinen Handschuhen, sie sickert aus dem, was eben noch ein
Auge gewesen ist und was jetzt aussieht wie eine zerdrückte
kleine Blume. Nicholas reißt die Hände zurück vor sein Gesicht,
krümmt sich zusammen und wälzt sich brüllend im Schnee. Ich
registriere eine Bewegung, sehe sie weniger, als dass ich sie
fühle. Dann höre ich harsche, schnelle, sich entfernende
Schritte. Ich springe auf, wirbele herum und spurte los.
Zehn Meter voraus rieselt Schnee von einigen bis auf die
Wiese herabreichenden Ästen der Obstbäume. Die Äste
schlagen gegeneinander, sie schließen sich hinter einem
Schatten, der zwischen ihnen verschwunden ist. Da ist der Stoß
aus geschlagenem Holz, nassbraun an den Seiten,
schneegekrönt und hoch genug, um sich bequem dahinter
verstecken zu können. Ich jage um den Stoß herum.
Wolf kauert auf dem Boden und starrt mich an, seine Augen
sind schrecklich klar und grau. Er trägt weder Jacke noch
Mantel, nur ein viel zu dünnes, gestreiftes Hemd. Die blonden,
lockigen Haare fallen schwer in seine Stirn, die sich windet und
kräuselt, als wäre sie lebendig. Das Luftgewehr liegt quer in
seinen Armen, Wolf wiegt sich damit langsam vor und zurück.
Seine Hände sind gefroren, die Venen liegen purpurfarben in
der Haut. Sein Mund bewegt sich, und kaum hörbar über die
entsetzlichen Schreie von Nicholas flüstern und singen blaue
Lippen wieder und wieder dieselben drei Worte über den
glitzernden Schnee: »Der arme Läufer, der arme Läufer, der
arme Läufer…«
WENN ICH SEINEN NAMEN FLÜSTERE, spüre ich
Scherben im Mund. Wenn ich sein Bild vor mich befehle, legt
sich Eis auf meine Gedanken. Wenn ich mir vorstelle ihn zu
streicheln, öffnen Skalpelle mir Finger und Hände.
Er ist in dieselbe Klinik eingeliefert worden, in der Kat und
ich uns kennen gelernt haben, zwei Autostunden von mir
entfernt. Er weigert sich, mich zu sehen oder sich von mir
anrufen zu lassen. Er will, dass ich seinen Namen nicht mehr
nenne. Ich bin verstoßen, Geschichte. Ich weiß nicht, wie ich
Kat in ihrem Urlaubsort erreichen soll. Ich weiß auch nicht, ob
ich das wirklich will.
Von seiner Mutter erfahre ich, dass das Auge irreparabel
verletzt und damit erblindet ist, dass aber die Kugel aus Wolfs
Luftgewehr, die aus dem hinteren Teil der rechten Augenhöhle
entfernt werden konnte, keinen darüber hinausgehenden
Schaden angerichtet hat. Seine Mutter ist eine sehr unglückliche
Frau. Ihre Einsamkeit umgibt sie wie der Gestank von
Verwesung. Ich habe mich ihr gegenüber als Schulfreund ihres
Sohnes ausgegeben. Seinen Vater lerne ich nicht kennen.
Die Kugel galt mir, geplant war nicht mehr als ein
Schreckschuss, wie Thomas bei der Polizei aussagt. Ich erfahre
nicht, wie er an Wolf geraten und wie es ihm gelungen ist, ihn
für sich einzunehmen. Nachdem er sich einmal in Wolfs Herz
und in seinen Kopf geschlichen hat, werden keine größeren
Überredungskünste notwendig gewesen sein, um ihn zur
willigen Waffe seiner Eifersucht zu machen. Jeden Tag haben
sie vor Visible auf mich gewartet, haben ausgeharrt in der Kälte,
bis sie mich mit Nicholas davongehen sahen und uns folgten.
Thomas konnte nicht ahnen, dass Wolf, als er schließlich
schoss, das Gewehr schon von mir abgewendet und damit auf
den Jungen neben mir gezielt hatte. Und vielleicht wäre ihm das
gleich gewesen.
EINE UNTERHALTUNG MIT DER DUNKELHEIT
TAGELANG WILL ES NICHT aufhören zu schneien. Die
Menschen jubeln über eine bevorstehende weiße Weihnacht,
und Glass hört unablässig den dazu passenden Song von Bing
Crosby, der schmachtend von einer uralten Schallplatte Stellas
herunterkratzt. Straßen werden kurzfristig unpassierbar,
abgelegene Ortschaften unzugänglich. Unter der gewaltigen
Last des Schnees brechen ganze Bäume oder sie neigen sich
bedrohlich zur Seite, und ab und an gibt Visibles Dach ein
drohendes, protestierendes Knarren von sich.
Zwei Tage vor Heiligabend trifft Gable in Visible ein, und mit
seiner Ankunft schlägt das Wetter um. Als er am frühen Mittag
mit geschultertem Seesack vor der Tür steht, setzt der
Schneefall aus. Fast scheint es, als sei Gable zusammen mit
tausend Sternen vom Himmel gestürzt – der Tag ist plötzlich
unwirklich hell und klar, die Luft steht reglos, und die Sonne
strahlt warm. Die begeisterten Schreie, mit denen Glass Gable
begrüßt, dringen bis hinauf in mein Zimmer, wo ich schwarzen
Gedanken über
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