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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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Weiß des hinter ihm leuchtenden Schnees verschmilzt.
Ich bemerke kaum wahrnehmbare Sommersprossen, die
während des Sommers dunkler gewesen sein müssen. Sein
kurzes Haar ist nicht wirklich rot, eher bronzefarben, doch seine
Augenbrauen und die Wimpern sind blond, so gut wie
unsichtbar. Der Junge ist fast mädchenhaft hübsch. Und leicht
verlegen – mir schießt durch den Kopf, dass er, wenn er vor
hundert Jahren an derselben Stelle gestanden hätte,
wahrscheinlich unschlüssig einen Hut zwischen seinen Händen
gedreht hatte.
    »Tag.«
»Hallo.«
»Wohnt hier… Hier wohnt doch Dianne, oder?«
»Auch.«
»Kann ich sie… Also, du kennst mich doch?«
Ich überlege. Plötzlich bin ich mir sicher, dass ich ihn kenne.
Ich krame in meinem Gedächtnis, aber ich kann dieses blasse
Gesicht nicht sofort einordnen, deshalb schüttele ich den Kopf.
    »Ich hab hier früher gewohnt. Natürlich nicht in eurem Haus«,
fügt er schnell hinzu. Er macht eine Kopfbewegung in Richtung
des Flusses. »Auf der anderen Seite, in der Stadt.«
    Er sieht mich an, voller Erwartung, den Mund halb geöffnet.
Dann greift er in seine rechte Manteltasche und zieht etwas
hervor.
    Ein Taschenmesser.
Ich schnappe nach Luft, weniger vor Schreck als vor
Überraschung. Es gibt nur einen Jungen auf der Welt, der mir
dieses Messer entgegenhalten würde. Vielleicht hätte ich ihn
sogar eher erkannt, aber damals waren seine Haare noch kürzer
gewesen, stoppelig, und sein Gesicht runder, wie jedes
Kindergesicht.
»Du bist der Typ, der Dianne mit dem Messer erwischt hat,
am Großen… am Fluss!«, sage ich verblüfft.
Er nickt und steckt das Messer wieder ein. Damals hatte
Dianne das Messer, nachdem sie es sich aus der Wunde im
Schlüsselbein gezogen hatte, in den Fluss fallen lassen. Der
Junge muss es sich später wiedergeholt haben. Er sieht mich
abwartend an. Er hat sehr helle, grüne Augen. Manchmal, wenn
ich von ihm geträumt habe, von ihm und seinem Messer und
Diannes Wunde, die unter dem Stich aufgeklafft war wie eine
überreife Frucht, habe ich diese Augen studiert. Als Kind
glaubte ich, Gemeinheit darin zu entdecken, einen Willen zum
Bösen, wenn es so etwas gibt. Aber selbst in meinen Träumen
war da mehr gewesen – ich erinnerte mich an das Zögern des
Jungen, das dem Messerstich vorausgegangen war und das sich
in seiner ganzen Körperhaltung, vor allem aber in seinen Augen
ausgedrückt hatte. Dann, irgendwann, hatte ich die Episode so
gut wie vergessen. Nachdem der Brocken und der kleine
Messerstecher die Stadt verlassen hatten, hatte ich kaum noch
an die beiden gedacht. In meiner Erinnerung waren sie zu
Phantomen geworden, die in den Schatten verschwanden, die
Diannes und meine übergroßen Heldengestalten auf die Welt
warfen.
»Was willst du?«, frage ich den Jungen.
»Deine Schwester sehen.«
»Wozu?«
»Um mich bei ihr zu entschuldigen.«
Ich kann nicht anders, ich muss grinsen. »Nach all den
Jahren?«
Er sieht wieder zu Boden. Es muss ihn eine Menge Mut
gekostet haben, hier aufzutauchen.
»Komm erst mal rein, bevor du erfrierst.« Ich lotse ihn in die
Küche. Glass hat am frühen Morgen den Ofen angeworfen, er
ist noch warm. Ich stochere in der verbliebenen Glut herum,
dann lege ich Holz nach, puste in den Ofen und warte, bis die
ersten Flammen aufflackern. Der Junge hat sich an den Tisch
gesetzt und sieht sich um. Seinen Mantel hat er nicht
ausgezogen.
»Und?«, sage ich.
»Was?«
»Ist es so, wie du erwartet hast? Das Hexenhaus?«
Er entspannt sich. Es ist, als würde ihn nur die Ofenwärme
auftauen. Er hat Grübchen, wenn er lacht. »Als Kinder haben
wir das wirklich geglaubt – deine Schwester und du, ihr wart
der blanke Horror für uns alle.« Er macht eine ausholende
Handbewegung. »Jetzt sehe ich nur eine Küche und einen
Typen, der ganz nett zu sein scheint.«
»Danke.«
»Vielleicht würde ich es anders sehen, wenn wir hier
geblieben wären, in diesem Loch von Kleinstadt. Die Leute sind
hier hundert Jahre hinterher.«
»Mit der Zeit ist es ein bisschen besser geworden«, sage ich.
»Ihr seid ziemlich schnell verschwunden damals, nach der
Sache am Fluss, oder?«
Der Junge nickt. »Drei Monate später ungefähr. Ich erinnere
mich kaum daran. Es war auch eher eine Flucht als ein Umzug.
Meine Mutter hat bei Nacht und Nebel ein paar Klamotten
gepackt, und das war’s. Ab in Richtung Süden, an die Grenze.
Der Alte hat in die Röhre geguckt.«
»Wohnt dein Vater noch hier, in der

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