Andreas Steinhofel
entstand in mir irgendwann der
Eindruck, sie ernähre sich ausschließlich flüssig, vermutlich von
ihrem geliebten Kirschlikör.
»Was für ein schönes Gefühl?«, fragte ich Annie jetzt und
streute den Tauben die letzten Krümel meiner Eistüte unter die
hackenden Schnäbel.
»Komms ma bei der Annie vorbei, dann wirsde sehn«, bot sie
mir an. Sie schlenkerte mit den Beinen und beobachtete
stirnrunzelnd und mit vorgestülpter Unterlippe, wie ihre rot
gelackten Schuhe im Sonnenlicht glänzten. Vielleicht fragte sie
sich, warum trotz dieses Lockmittels kein Mann sie je ansprach.
»Komms ma vorbei, dann zeigtse dir was, die Annie. Kriegste
noch ‘n Eis als Belohnung.«
Bereits am nächsten Tag stand ich vor ihrer Tür, es war der
erste von vielen Besuchen. Das Haus war von einem kleinen
Garten umgeben, in dem es üppig grünte und blühte. Annie war
die einzige mir bekannte Frau, die mit ihren Pflanzen redete.
Manchmal sah ich sie von weitem, eine Gießkanne in der Hand,
in dem kurzen, von Rosen umschlungenen Laubengang stehen,
der durch einen Teil des Gartens verlief. Sie schwenkte das
zerbeulte Kännchen mal hierhin, mal dorthin, und plauderte
dabei so munter mit dem Grünzeug, als hätte sie ein
Kaffeekränzchen einberufen.
Annie legte mir zur Begrüßung ihren dicken Arm um die
Schultern. Da alles an ihr dick und fleischig war, beachtete ich
die auf meinem Rücken ruhende wabbelnde Masse gar nicht.
Viel auffallender war Annies leicht vorgestülpte Unterlippe, die
immer aussah, als sei sie bereit, sich dem nächsten Gläschen
Kirschlikör entgegenzuspitzen, oder aber, als wäre ihre
Besitzerin beleidigt, und auffallend waren auch Annies große,
schläfrige Augen. Kurz bevor das einzige Kino der Stadt für
immer seine Pforten schloss, hatte Glass sich mit Dianne und
mir im vergangenen Frühjahr Walt Disney’s Bambi angesehen,
einen Film, in dem zu meiner Erleichterung niemand zu große
oder zu kleine Ohren besessen hatte. Aber ein Stinktier war
darin vorgekommen, der ewig müde Blume, und es waren
Blumes blaue Augen, die ich in Annies gutmütigem fettem
Gesicht wieder entdeckte.
In ihrem kleinen Haushalt herrschte eine Ordnung, die mich
erstaunte. Von Visible war ich verstaubte Räume gewöhnt, in
denen alte Möbel und vergessene Kisten und Kästen kreuz und
quer standen. Hier aber war alles makellos sauber, hatte alles
seinen Platz. Auch Annie. Sie lotste mich ins Wohnzimmer,
einem gemütlichen Sofa entgegen, in dem sich eine tiefe Kuhle
abzeichnete. Don ließ sie sich prustend hineinplumpsen.
Nachdem sie in rascher Folge drei Gläschen Kirschlikör gekippt
hatte, schnalzte sie mit der Zunge und tippte sich mit dem
Zeigefinger an den Kopf.
»Da is ein Rauschen drin. Das is weiß. Kanns du’s hören,
Jungelchen?«
Ich kniete mich auf das Sofa, presste mein rechtes Ohr an ihr
linkes Ohr und lauschte eine Weile. Tatsächlich hörte ich ein
entferntes Rauschen, aber ich hätte lügen müssen, um es als
weiß zu bezeichnen, und ob es das Rauschen war, wusste ich
auch nicht. Ich nickte trotzdem. Ein Eis stand auf dem Spiel.
»Manchma isses da, dann wieder nich«, stellte Annie fest.
»Wenn’s da is, kriegt Annie Flecken vor die Augen. Rauscht
und rauscht, wie wenn man pinkelt, was?«
»Ja.«
Sie nickte, starrte für einen Moment mit ihren schläfrigen
Augen ins Nirgendwo und wuchtete sich dann aus dem Sofa.
»Nu zeig ich dir was Jungelchen.«
Sie ging zu einer Kommode, wo sie mit geheimnistuerischem
Lächeln einen kleinen Schlüssel aus ihrer Kitteltasche zog und
eine der Türen öffnete. Sekunden später hatte sie einen
Fernseher auf den Tisch gezaubert – kein echtes Fernsehgerät,
sondern eine aus Kunststoff gefertigte Miniaturausgabe in
grellem Orange, etwa von den Maßen einer
ZigarettenSchachtel, die ein winziges Guckloch und einen
seitlich angebrachten Druckknopf besaß. Unter Annies
Anleitung sah ich durch das Guckloch und drückte auf den
Knopf. Der kleine Automat lieferte nacheinander zwölf Bilder,
winzige Diapositive. Im Wesentlichen zeigten sie alle das
Gleiche: nackte Frauen mit Respekt einflößenden Oberweiten
und so weit gespreizten Beinen, dass ein ungehinderter Einblick
in tiefste anatomische Tiefen gewählt wurde. Ich wusste nicht,
was ich davon halten sollte.
»Is Porno, das«, flüsterte Annie dicht neben mir, und auf einer
Wolke bitteren Alkoholgeruchs schienen Kirschblüten durch
das Zimmer zu schweben. »Schweinisches
Weitere Kostenlose Bücher