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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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Nichts. Ich bin von einer
Einsamkeit umfangen, die weder die Anwesenheit von Glass
noch die von Dianne oder Kat auflösen könnte. Selbst Amerika
ist kein Trost, ist es seit Jahren nicht mehr, kann es auch nicht
sein, denn mein Mund ist wie versiegelt und weigert sich, das
magische Wort auszusprechen.
    Wie von selbst gleiten meine Hände den Bauch herab, bleiben
kurz dort liegen, warme Haut auf heißer Haut, um sich dann
langsam weiter nach unten zu tasten, wo sie ihren eigenen
geübten Rhythmus finden, der schneller ist als mein Atem,
schneller als mein Pulsschlag. Ich vertraue darauf, dass das die
Einsamkeit vertreibt, aber es macht sie nur noch größer.
»WEISSTE DENN AUCH, wie man das macht,
Jungelchen?«, fragte mich Annie Glossen.
     
»Wie man was macht?«
    »Ein schönes Gefühl. Wie man sich ‘n schönes Gefühl
machen tut.«
Ein schönes Gefühl war es, als achtjähriger Stöpsel neben
dieser dicken Frau auf dem Rand des Marktbrunnens zu sitzen
und unter einem ungetrübten Sommerhimmel das Eis zu
schlecken, das sie mir soeben großzügig spendiert hatte. Ein
schönes Gefühl war es, den Tauben dabei zuzusehen, wie sie zu
unseren Füßen um die Krümel stritten, die von meiner Eiswaffel
bröckelten.
Zu meiner großen Zufriedenheit hatte ich Annie Glösser ganz
für mich allein. Schon als sie das erste Mal in Visible
erschienen war, hatte Dianne sich geweigert, die dicke Frau
auch nur anzusehen. Sie hatte sofort den gleichen
Sicherheitsabstand zu ihr eingehalten, den sie sonst
ausschließlich für Gable reservierte. Ich konnte mir keinen
Grund für ihre Ablehnung vorstellen, denn Annie war das
harmloseste Wesen auf der Welt. Vielleicht hatte Dianne
einfach das Gefühl, dicken Menschen ausweichen und Platz
machen zu müssen, selbst wenn sie saßen.
Annie Glösser bewohnte ein kleines, hell getünchtes Haus, das
wie Visible nahe dem Fluss und etwas außerhalb der Stadt
stand, wenn auch auf der Seite der Kleinen Leute. Schon von
daher glich Annie, wie ich fand, viel mehr Glass, Dianne und
mir als den Stadtbewohnern, die höchstwahrscheinlich
derselben Auffassung waren, denn Annie war, wie sie es mehr
als einmal und nicht nur mir gegenüber selbstkritisch
ausdrückte, ein bisschen plemplem. Sie war nach Visible
gekommen, weil eine mitleidige Seele, wohl in der irrigen
Annahme, sie habe ein Männerproblem, ihr versichert hatte, sie
könne die Antwort auf all ihre diesbezüglichen Fragen bei Glass
finden. Aber Annie hatte kein Männerproblem. Sie konnte
lediglich nicht rechnen. Sie fand sich nicht in der Tageszeitung
zurecht, wenn Spirituosengeschäfte oder Supermärkte von nah
und fern darin mit Sonderangeboten warben, speziell mit
Sonderangeboten für Kirschlikör, und fürchtete daher, beim
Einkaufen größerer Mengen übers Ohr gehauen zu werden. Eine
einfache Addition bereitete Annie so viel Kopfzerbrechen wie
anderen Menschen eine exakte Entschlüsselung der
Relativitätstheorie. Glass erklärte ihr, bei der Höhe ihrer
Behindertenrente sei es nicht nur völlig schnuppe, welche
Marke sie trinke, sondern sie könne sich ohne weiteres jede
einzelne Flasche auch noch mit Blattgold verzieren lassen. Sie
schickte Annie wieder nach Hause. »An diese Annie solltest du
dich halten, Darling«, riet sie mir. »Geh sie besuchen. Von
verrückten Leuten kann man eine Menge lernen.«
Glass konnte nicht ahnen, wie Recht sie damit behalten sollte.
Woraus genau Annies Behinderung bestand, sollte ich nie
erfahren. Vermutlich war sie nicht mehr als eines der eher
seltenen, aber doch typischen Hervorbringsel dieser Kloake, wie
Glass die Stadt Jahre später nennen sollte. Sie war harmlos,
wurde geduldet, belächelt, und musste, wie ich mir mitfühlend
ausmalte, als Kind zweifellos eine beliebte Zielscheibe
grausamen Spottes gewesen sein.
»Manchma fühlt die Annie sich allein«, gestand sie mir bei
einem meiner Besuche. »Deshalb hattse sich rote Schuhchen
gekauft.«
Annies unterentwickelte geistige Wendigkeit fand nur
scheinbar die Entsprechung in ihrer vermeintlich trägen
körperlichen Masse. In Wirklichkeit war Annie erstaunlich
beweglich. Auf ihren roten Schuhen tänzelte sie in einer Art
erotischer Angriffslust durch die Stadt, wobei sie manchmal
kess den Rocksaum hochzog, damit jedermann ihre Waden und
fleischigen Fesseln sehen konnte. Wovon Annie so fett war,
fand ich nicht heraus. Da ich sie selbst jemals weder Eiskrem
noch sonst etwas essen sah,

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