Andreas Steinhofel
fünf Jahren verändert. Seine Schultern sind breiter
geworden, die Gesichtszüge kantiger, und er trägt die schwarzen
Haare länger als damals. Nur seine Augen sind noch genau so,
wie ich sie in Erinnerung habe: lebendig, unlesbar und
beunruhigend dunkel.
Ich habe kurz mit dem Gedanken gespielt, Kat zu erzählen,
dass ich den Neuen kenne, dass ich ihn vor Jahren schon einmal
gesehen habe und wie tief diese Begegnung mich beeindruckt
hat. So tief, dass ich über die Jahre hinweg zu allen möglichen
passenden und unpassenden Gelegenheiten immer wieder daran
gedacht habe. Das vernichtende Urteil, das Kat in einer der
Pausen über Nicholas verhängt hat, hat mich jedoch vorerst
vorsichtshalber den Mund halten lassen.
»Er ist ein Blender.«
»Ein was?«
»Ein Blender. Macht auf einsamen Cowboy, außen hart, innen
sensibel. In Wirklichkeit ist er außen weich und innen
langweilig. Glaub mir, ich kenne diese Typen, Thomas ist
genauso drauf. Den kannst du abhaken.«
»Könnte es sein, dass du sauer bist, weil du dich getäuscht
hast? Weil dein kleiner Kompass in die falsche Richtung
gezeigt hat?«
»Soll vorkommen.«
Der letzte Satz hatte beinahe wütend geklungen. Ich schwieg
und kam mir dabei vor wie ein Verräter, weil ich Kats
Abneigung gegen den Neuen weder teilen wollte noch konnte.
Ich habe ihr nicht gesagt, dass ich Nicholas attraktiv finde, dass
seine Schweigsamkeit mich eher anzieht als abstößt. Kat mag
ihn abhaken, aber ich will mir alle Optionen offen halten. Ich
will ihn kennen lernen. Ich muss. Je länger ich in das langsam
abklingende Gewitter starre, desto fester wird mein Entschluss.
Er nährt sich aus dem Gefühl, dass der Neue mir etwas schuldet.
Es ist, als hätte er mir – als hätten wir uns – damals in der
Winterkälte ein Versprechen gegeben, das ich mit einer
zerbissenen Unterlippe und Blut besiegelt habe und das von
beiden Seiten noch einzulösen ist.
Das Knirschen von Kies reißt mich aus meinen Gedanken und
lässt mich nach unten schauen, gerade noch rechtzeitig, um im
Wetterleuchten Diannes schmale Gestalt zwischen den Bäumen
verschwinden zu sehen. Ich widerstehe der Versuchung, ihren
Namen zu rufen. Sie fühlt sich offensichtlich unbeobachtet, und
genauso offensichtlich will sie allein sein. Das Knarren der
Dielen vor meiner Zimmertür, das ich vorhin gehört habe,
könnte Dianne verursacht haben, als sie durch mein
Schlüsselloch geschaut hat, um sicher zu gehen, dass ich mich
schlafen gelegt habe. Ich bin überrascht, aber noch größer als
meine Überraschung ist meine Erleichterung. Das Insekt
verlässt seine Höhle aus Bernstein. Dianne trifft sich mit
jemandem; ich kann mir kaum vorstellen, dass sie um diese
Zeit, bei diesem Wetter, Visible verlässt, um mit sich allein zu
sein.
Unvermittelt überfällt mich, obwohl Dianne und ich uns schon
vor Jahren voneinander entfernt hatten, so etwas wie Eifersucht.
Früher sind wir untrennbar gewesen, Hand in Hand haben wir
die Welt zu zweit erlebt. Wir haben unschuldige Doktorspiele
miteinander veranstaltet, nach denen wir uns wochenlang nicht
bei unseren Namen, sondern nur Pipi und Pillermann riefen und
dabei totlachten, und später haben wir gemeinsam eine Schlacht
geschlagen. Dann, irgendwann, ohne ersichtlichen Grund, ist
meine Schwester verstummt. Sie hat sich wie ein Trugbild vor
meinen Augen verflüchtigt. Zu wem auch immer sie jetzt geht,
er weiß mehr über sie als ich.
Ich löse mich erst von meinem Platz am Fenster, als das
Gewitter abgezogen ist. Der Himmel reißt auf, Wolken treiben
auseinander und geben den bis dahin verdeckten Mond frei.
Voll und leuchtend steht er über dem Fluss und der Stadt.
Paleiko sitzt ruhig im Regal. Unter seinen hellen Augen ziehe
ich mich aus und lege mich auf mein Bett. Ich lausche dem
gleichmäßigen Rauschen des Regens, dem fernen Rollen des
Donners. Visible umgibt mich wie ein Schale. Und plötzlich
fühle ich mich wieder, wie der kleine Junge, der ich einmal
gewesen bin, als mikroskopisch kleiner Mittelpunkt eines
gigantischen, leeren Gehäuses. Ich bin allein. Glass ist von
ihrem Treffen mit dem Betrugsdelikt noch nicht zurückgekehrt;
Dianne ist gegangen, sie braucht mich nicht. Ich lege die Hände
auf die Brust und konzentriere mich auf das Heben und Senken
meines Brustkorbs, auf den Rhythmus des Atmens. Ein, aus,
ein, aus…
Dann löst selbst das Gehäuse sich auf, ist nur noch ein
Vakuum vorhanden, ein grenzenloses
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