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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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langen Pause,
die mich fast in den Wahnsinn trieb, fügte sie hinzu: »Wenn ich
es mir genau überlege, bin ich sogar ganz sicher, dass du Recht
hast.«
Ich warf die Decke zurück, sprang aus dem Bett und rannte
auf nackten Füßen über den kalten Parkettboden. Vorsichtig
öffnete ich die Zimmertür und lugte erwartungsvoll nach
draußen in den Flur. Nach links und rechts verlor sich der
Korridor in undurchdringliches Dunkel. Weder von
Dornröschen noch von dem schönen Prinzen oder dem aus
hundertjährigem Schlaf erwachten Hofstaat war etwas zu sehen.
Enttäuscht warf ich die Tür zu und stürmte zurück ins Bett.
»Wirklich?«, flüsterte ich. »Hier im Haus?«
Tereza nickte ernst und beugte sich zu uns vor. Ihr Blick
richtete sich langsam gegen die Zimmerdecke, ebenso langsam
kehrte er zurück. Sie sprach so leise, dass ich nicht sicher war,
ob ich die Worte tatsächlich hörte oder sie ihr nicht nur von den
Lippen ablas. »Wenn ihr mich fragt, wohnen Dornröschen und
ihr Prinz da oben, auf dem Dachboden. In ewiger Liebe leben
sie dort. Und doch fehlt ihnen etwas. Wisst ihr, was es ist?«
Dianne und ich schüttelten einträchtig die Köpfe, Während ich
gebannt an Terezas Lippen hing und darauf wartete, dass sie
weitersprach, schoss mir durch den Kopf, dass es uns
unmöglich war, Dornröschen und den Prinzen jemals zu
besuchen. Weder Dianne noch ich hatten den Dachboden bisher
betreten. Nachts tobten dort oben Furcht einflößende Geräusche
– Bilche, Marder oder Eichhörnchen, behauptete Glass,
vielleicht sogar Mäuse. Doch Dianne und ich waren nicht
dumm. Wir wussten, dass es sich bei den Verursachern des
Lärms um Schreckgestalten handelte, um ungeheuerlichste
Ungeheuer, die seit Anbeginn der Zeit nur darauf warteten, dass
zwei kleine Dummköpfe wie wir den Dachboden betraten, um
ihnen ebendiese dummen Köpfe mit stumpfen, gelben Zahnen
abzubeißen.
»Sag doch endlich!« Ich schlug Tereza mit der Faust auf die
Knie. »Sag doch, was fehlt ihnen denn?«
»Dornröschen und dem Prinzen fehlt… Popcorn!«, schrie
Tereza, und schon stoben Dianne und ich schreiend vor ihr her
in die Küche, die bald darauf vom Geruch ausgelassener Butter
und den prasselnden, winzigen Donner schlagen aufplatzender
Maiskörner erfüllt war.
Den verwunschenen Dachboden zu betreten kam nicht in
Frage. Da mich aber die Geschichte von Dornröschen nicht
mehr losließ, bedrängte ich Dianne am nächsten Tag, sie mit
mir nachzuspielen. Wir plünderten Glass’ Kleiderschrank und
benutzten alles, was uns in die Hände fiel – bunte fast
durchsichtige Tücher, mit denen unsere Mutter sich die Haare
zusammenband, kurze Röcke, Nylonstrümpfe in allen
möglichen Farben, Gürtel mit den verschiedenartigsten
Ornamenten -, um uns damit in phantastische Gewänder zu
hüllen. Wir rannten in den Garten und kamen mit Armen voller
duftender Wildrosen zurück, die wir im Schlafzimmer
auslegten. Wir benutzten Schminke, Lippenstift und Puder, um
uns die Gesichter anzumalen.
Dass nach all diesen Vorbereitungen Dornröschen dennoch
nie zur Uraufführung gelangte, lag an Dianne. Ich redete mit
Engelszungen auf sie ein, doch sie schüttelte störrisch das
wachsbleich gepuderte Gesicht und hielt die karminroten
Lippen, mit deren Anstrich ich mir so viel Mühe gegeben hatte,
fest aufeinander gepresst. Sie konnte sich einfach nicht dazu
überwinden, zu mir auf das Bett unserer Mutter zu klettern und
mich wachzuküssen.
Als ich mich abends, aufgebracht und den Tränen nahe, bei
Tereza darüber beschwerte, nahm sie mich in die Arme. Sie ließ
mich das Gesicht in ihren roten Haaren verbergen, die einen
kaum wahrnehmbaren, tröstenden Duft nach Orangen und
Mandeln verströmten. »Mach dir nichts draus, Phil«, flüsterte
sie. »Ich kann dich gut verstehen. Weißt du, ich wollte immer
der Prinz sein. Aber niemand hat mich gelassen.«
»Warum nicht?«
»Das ist eine verdammt gute Frage, mein Kleiner.« Tereza
loste die Umarmung und nahm mein Gesicht zwischen ihre
Hände. Ich bekam einen KUSS auf die Stirn gedrückt, dann
wuschelte Tereza mir mit einer Hand durch die Haare und
fragte: »Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, wie
niedlich deine abstehenden Ohren sind?«
    NICHOLAS IST EIN so guter Sportler, dass das Direktorium
der Schule mit dem Gedanken spielt, ihm einen eigenen Trainer
Seite zur stellen. Seine Spezialität ist Langstreckenlauf. Schon
bald nennen ihn alle nur noch den Läufer. Er hat einen
Sportkurs am frühen Donnerstagnachmittag

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