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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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hatte keine Ahnung, wie ihre Bemerkung gemeint war,
aber ihr herablassender Tonfall erschreckte mich. Sie legte ihre
Hände auf meine Schultern, beugte sich zu mir herab und nickte
in Richtung des Mannes und der Frau, die hinter einer Wand aus
Schnee verschwanden, so wie das brennende Haus in der Kugel
verschwand, wenn ich sie schüttelte.
»Die Menschen hier«, sagte Glass mit einer den gesamten
Marktplatz umfassenden Geste, »kleben seit Hunderten von
Jahren aufeinander und halten das für völlig normal. Aber
dieselben Menschen werden dich dafür hassen, dass du dich
früher oder später in einen Jungen verlieben wirst.«
Ich war immer noch wütend auf sie. Aber ich wusste, dass sie
die Wahrheit sagte. Visible war ein magischer Ort und Glass
war eine außergewöhnliche Mutter, gemeinsam schufen sie
eigene Gesetze, die hier draußen, unter den Kleinen Leuten,
keine Geltung hatten. Bisher hatte ich geglaubt, Glass habe
mich mitgenommen, um mir ungestört mitteilen zu können, dass
sie schwanger war. Doch dafür hätte es genügend andere
Gelegenheiten gegeben. Jetzt überlegte ich, ob Sinn und Zweck
unseres Spazierganges war, mir ihre Verachtung für die
Jenseitigen zu zeigen. Als ich mir den Gesichtsausdruck ins
Gedächtnis rief, mit dem sie über die Kleinen Leute gesprochen
hatte, fröstelte ich.
Auf dem Heimweg fiel kein Wort. Erst als wir zu Hause
angekommen waren, nahm ich allen Mut zusammen und sprach
Glass erneut an.
»Warum hast du dem Jungen zugewinkt?«
Sie schlüpfte aus ihren Stiefeln, schüttelte die langen Haare,
fasste sie im Nacken zusammen und überlegte. »Weil ich
gesehen habe, dass er dir gefiel«, antwortete sie schließlich.
»Man kann sich auf der Stelle verlieben, weißt du? Dann
vergisst man die Kälte und den Winter.«
»Hast du dich jemals auf der Stelle verliebt?«
Sie straffte die Schultern. »Das ist lange her. Ich mache uns
eine heiße Schokolade, Darling.«
Die Stiefel wurden nachlässig in eine Ecke der Garderobe
geworfen, dann verschwand Glass durch den unbeleuchteten
Flur. Sie konnte sich durch die Dunkelheit bewegen wie eine
Katze. Während ich meinen Mantel auszog, überlegte ich, ob sie
eben auf meinen Vater angespielt hatte.
Dann war jeder Gedanke verschwunden. Meine Hände, die
auf der Suche nach der Schneekugel die tiefen Manteltaschen
durchwühlten, förderten nur ein paar verrotzte
Papiertaschentücher zutage. Auch ein zweites, gründlicheres
Durchsuchen blieb erfolglos. Die Schneekugel war
verschwunden. Ich geriet in Panik. Sie musste mir bei meinem
Sturz aus der Tasche gekullert sein. Aus Diannes Zimmer tönte
laut der Fernseher. Ihr würde es gleichgültig sein, dass ich ihr
Weihnachtsgeschenk verloren hatte, mir war es das nicht. Ich
schloss die Augen, rief mir das Bild der Schneekugel in
Erinnerung und wartete auf das schneidende Gefühl des
Verlusts. Stattdessen stieg vor mir, deutlich wie auf einer
Fotografie, das Gesicht des Jungen mit den leuchtenden Augen
auf, und mein Herz zog sich zusammen.
Ich behielt Mantel und Schuhe an und lief zurück zum
Marktplatz. Alle Unsicherheit gegenüber den Kleinen Leuten
war vergessen. Ich suchte überall, doch die Kugel war und blieb
unauffindbar.
Das habe ich nie vergessen: dass man liebt, um die Kälte zu
vergessen und den Winter zu vertreiben.
    ERST GEGEN MITTERNACHT entlädt sich heftig das
Gewitter, das während des Vormittages aufgezogen ist und das
seitdem unentschlossen und bleischwer auf der Stadt gelegen
hat. Ich habe das Licht in meinem Zimmer gelöscht, stehe am
offenen Fenster und höre dem Regen zu, wie er prasselnd den
Staub von den Bäumen und die Schwüle aus der Luft wäscht.
Auch Visible scheint aufzuatmen, es ist, als gehe ein
erleichtertes Wispern durch das Haus. Ich zucke zusammen, als
direkt vor meiner Zimmertür die Dielenbretter knarren. Draußen
flackert der Himmel geisterhaft hell, sekundenlang verleiht
unwirkliches Licht jedem Baum, jedem Dachfirst auf der
anderen Seite des Flusses neue, scharfe Konturen.
    Irgendwo dort drüben wohnt Nicholas. Heute Morgen, bevor
er sich in die hinterste Reihe der Klasse gesetzt hat, um mit lang
ausgestreckten Beinen bis zum Ende der Mathematikstunde
desinteressiert aus dem Fenster zu schauen, hat mich sein Blick
nur gestreift. Was bereits ausgereicht hat, meinen Herzschlag
zum Stolpern zu bringen. Ich bin mir sicher, dass Nicholas mich
nicht wieder erkannt hat. Wir haben uns beide seit jenem Winter
vor

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