Andreas Steinhofel
Zeug,«
»Pornodas«, wiederholte ich andächtig.
»Mach ma die Hosen runter jetzt.«
Ich stellte den Fernseher vor mir auf den Tisch und ließ
gehorsam meine Hosen herunter.
»Nu musste an dir spielen, Jungelchen«, sagte Annie sachlich.
»Bis das Hähnchen kräht.«
Um an das versprochene Eis zu kommen, kam ich ihrer
Aufforderung nach, allerdings ohne bemerkenswerte Resultate
zu erzielen. Wahrscheinlich gibt es für einen Achtjährigen
nichts Langweiligeres auf der Welt als die ausbleibende
Erektion angesichts eines orangefarbenen Plastikfernsehers, der
pornographische Aktbilder zeigt. Doch das hielt Annie nicht
davon ab, mir mit erstaunlich sanften, augenscheinlich geübten
Fingern beizubringen, wie ich meine Hand zu bewegen hatte,
wenn das Hähnchen krähte.
»Und, is das’n schönes Gefühl?«
»Jaja.« Ich wurde ungeduldig. Die ganze Sache interessierte
mich ungefähr so sehr wie ein Loch in der Luft oder ein Foto
von einem weißen Blatt Papier. »Bekomme ich jetzt mein Eis?«
Annie nickte und rülpste in rascher Folge mehrere
Kirschwolken in die Luft. Ich zog die Hosen hoch und der
Fernseher verschwand in seinem Versteck in der Kommode.
Annie quetschte ihre dicken Füße in die roten Schuhe, dann
spazierten wir Hand in Hand in die Stadt.
»Schon ma Schokolade geklaut, Jungelchen?«, fragte Annie
unterwegs.
»Nein.«
»Inne Kirche ins Taufbecken gespuckt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Aber die Annie«, sagte sie. Ihr bellendes, kurzatmiges
Lachen musste bis Visible zu hören sein.
Annie schien zufrieden damit, mir etwas fürs Leben
beigebracht zu haben, denn mir wurde nie wieder angeboten den
Fernseher und das schweinische Zeug zu betrachten. Das war
mir nur recht, denn so blieb uns mehr Zeit für ausgiebige
Besuche der Eisdiele, von denen ich Dianne, um sie neidisch zu
machen, ebenso regelmäßig wie erfolglos berichtete.
Dass ich mich auf immer und ewig lebhaft an jenen Tag und
das unerotische Erlebnis auf dem Sofa erinnern sollte, lag daran,
dass ich in dem Moment, als ich mit herabgelassenen Hosen
neben Annie gesessen hatte, instinktiv wusste, gemeinsam mit
ihr etwas Verbotenes zu tun. Das Hähnchen krähen zu lassen,
eine Tafel Schokolade zu stehlen oder eine Kirche zu
entweihen, indem man in das Taufbecken spuckte, war ein und
dasselbe. Es war verboten, und mit diesem Verbot zu brechen,
jawohl, das war ein schönes Gefühl, wenn auch sicher nicht das
von Annie gemeinte.
Gegen Ende des Sommers hatte Annie Glösser einen Unfall,
als sie, mit zwei Einkaufstaschen bepackt, durch die Stadt
watschelte. In ihrem Kopf musste wohl das übliche weiße
Rauschen geherrscht haben; sonst wusste ich jedenfalls nicht,
warum ihre Augen blind waren für die Baugrube, die sich nur
wenige Meter voraus an einer Kreuzung vor ihr auftat.
Augenzeugen berichteten, Annie sei zielstrebig auf den
Unglücksort zugetänzelt, ihr mächtiger Körper habe das
rotweiße, um die Baustelle gespannte Sicherheitsband zerrissen,
und für den Bruchteil einer Sekunde habe sie, wie von
unsichtbarer Hand gehalten, über der Grube in der Luft
gehangen. Dann rauschten die schwere Annie und ihre nicht
minder schweren Einkaufstaschen abwärts. Als Annie geborgen
wurde – eine zeitaufwendige Aktion, weil Grube und Frau von
ungefähr gleichem Umfang waren, so dass man lange rätselte,
wie es Annie wohl gelungen war, so passgerecht in das Loch zu
fallen -, als Annie also geborgen wurde, war ihr Sommerkleid
durch und durch rot gefärbt. Panik brach aus, bis auch ihre
Einkaufstaschen ans Tageslicht zurückbefördert worden waren.
Darin fanden sich die scharfkantigen Überreste von mindestens
sechs zerborstenen Flaschen Kirschlikör, deren Inhalt sich über
Annie ergossen hatte, und ansonsten, was mich nicht
überraschte, keine weiteren Lebensmittel. Als Annie ins
Krankenhaus eingeliefert wurde, stellte man den Verlust von
einem ihrer roten Schuhe fest. Er musste in in der Grube
zurückgeblieben sein, wahrscheinlich wurde er später einfach
einbetoniert.
Annie selbst hatte sich bei dem Sturz beide Schlüsselbeine
gebrochen. Ich sah sie nie wieder. Dieselben Stadtväter, die sich
vor acht Jahren nach Stellas Ableben mangels greifbarer
Verwandter rührig gezeigt hatten, wurden aus ähnlichen
Beweggründen erneut aktiv und ließen Annie Glösser, ledig,
kurzerhand in ein Sanatorium einliefern. Zumindest war das die
offizielle Verlautbarung. Die Kinder in der Schule, wie üblich
aus
Weitere Kostenlose Bücher