Andreas Steinhofel
geheimnnisvollen Quellen gründlicher informiert als die
Erwachsenen, brachten es auf den Punkt.
»Die ist im Irrenhaus, die Annie. Da machen die Sachen.«
»Was für Sachen?«
»Da kriegt sie Strom überall reingejagt.«
»Spritzen auch.«
»Und wird in Eis gelegt, bis sie sich nicht mehr rühren kann.«
»Die wohnt in einer Gummizelle.«
»Warum?«
»Damit sie sich nicht den Kopf einrennt vor Wut. Die ist
nämlich gefährlich.«
»Und Windeln hat sie um.«
Letzteres war die Nachricht, die mich am heftigsten
erschütterte. Dass Annie sich die Knochen gebrochen hatte, tat
mir unendlich Leid. Sie musste Schmerzen erlitten und wohl
auch Angst gehabt haben, dort unten in dem dunklen Loch,
bekleckert mit klebrigem Likör. Doch die Vorstellung von einer
in Windeln gewickelten Annie brach mir das Herz. Überhaupt
war ich mir sicher, das alles, was im Irrenhaus mit Annie
angestellt wurde, ihr ganz bestimmt kein schönes Gefühl
vermittelte, und in mir wuchs die drohende Ahnung, dass für
Annie mit dem Kirschlikör nun wohl genauso Schluss war wie
mit dem kleinen Pornodas-Fernseher aus orangefarbenem
Plastik. Annie Glössers Schicksal rührte mich so sehr, dass ich
für lange Zeit auf die Frage, welchen Beruf ich später einmal
ergreifen wolle, mit ›Irrenarzt‹ geantwortet hätte. Nur gab es
niemanden, der mir diese Frage stellte.
Noch mehrere Wochen lang strich ich um Annies hell
getünchtes Haus herum, in heimlicher Erwartung eines
aufschwingenden Fensters oder einer sich einladend öffnenden
Tür. Dianne und ich gewannen die Schlacht am Großen Auge,
und ich hätte Annie gern davon erzählt. Doch der Sommer
verging, Unkraut ergriff Besitz von dem vernachlässigten
Garten und erstickte die Pflanzenpracht auf den Blumenbeeten,
und als selbst der Herbstwind vergebens an den bunten
Fensterläden rüttelte, gab ich alle Hoffnung auf. Ich vergaß aber
weder Annie, noch was zu tun war, wenn das Hähnchen krähte.
Als ich mich Jahre später zum ersten Mal erfolgreich selbst
befriedigt hatte, genau so, wie es mir beigebracht worden war,
kaufte ich tags darauf zu Annie Glössers Ehren eine Eiswaffel.
Ich setzte mich damit auf den Rand des Marktbrunnens,
zerbröselte die Waffel und verfütterte die Krümel an die
gurrenden Tauben.
SONST WECKST DU SIE AUF
DIE FEINDSELIGEN, TODBRINGENDEN Dornenranken
hatten sich zurückgezogen. Die Fliegen summten wieder und
krabbelten an den rußigen Wänden, und dem Küchenjungen war
vom Koch eine schallende Ohrfeige versetzt worden. Einer
Hochzeit stand nichts mehr im Wege. Ich war mehr als
zufrieden. Ich war rundum glücklich.
»Aber warum hat der Prinz Dornröschen geküsst?«, wollte
Dianne wissen.
»Weil er verliebt war.«
»Wie konnte er in Dornröschen verliebt sein, obwohl er es gar
nicht kannte?«
»Weil das manchmal eben einfach so ist.« Tereza klappte das
Märchenbuch zu und ließ sich gegen die Rückenlehne des
burgunderrot gepolsterten Sessels fallen, der mit
protestierendem Knarren prompt einen Teil seiner Füllung
ausspuckte. Sie lehnte sich so weit zurück, dass im Schein der
Kerzen, die auf dem Nachttisch neben unserem Bett standen,
ihre Augen nicht mehr waren als zwei glimmende, silbergraue
Flecken.
Dianne zupfte nachdenklich an einem ihrer Ohrläppchen, die
Unterlippe vorgeschoben, sichtlich unzufrieden mit Terezas
Antwort. Ihre Skepsis war mir nicht nur unbegreiflich, ich fand
sie auch ganz und gar unromantisch. Dass der Prinz das
schlafende Dornröschen liebte, war ein Naturgesetz, und
Naturgesetze stellte man nicht in Frage. Mich bewegte ein
Problem viel praktischerer Natur.
»Wo leben sie denn jetzt, der Prinz und Dornröschen?«
»Wie meinst du das?«
»Du hast gesagt, sie lebten glücklich für alle Zeit.«
»Oh, verstehe…« Jetzt war es an Tereza, an ihrem
Ohrläppchen zu zupfen. »Also, wahrscheinlich leben sie in
einem schönen Schloss.«
»So eins wie auf dem Schlossberg in der Stadt?«
»Nein. Das ist zu klein und zu popelig. Richtige Prinzen und
Prinzessinnen brauchen mindestens… na, sagen wir mal,
ungefähr hundert Zimmer.«
In meinem Kopf flackerte eine tollkühne Idee auf. »Tereza,
gibt es in Visible hundert Zimmer?«
»Ganz bestimmt«, kam es von dem burgunderroten Sessel.
»Mindestens.«
Ich war in heller Aufregung. »Dann wohnen Dornröschen und
der Prinz vielleicht hier im Haus, und wir haben sie nur noch
nicht gesehen?«
Dianne gab ein ungläubiges Schnaufen von sich.
»Könnte sein«, sagte Tereza. Und nach einer
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