Andreas Steinhofel
den du hier verbringst. Du gewöhnst dich
an die Welt der Kleinen Leute. Deine Fußstapfen werden tiefer
mit jedem Weg, den du hier zurücklegst. Dein Horizont wird
kleiner mit jedem Blick aus dem Fenster.
Du kannst das nicht beurteilen. Ich bin stärker, als du denkst,
Paleiko.
Du bist schwächer, als du glaubst.
Tut mir Leid, alter Freund, aber so sehe ich das nicht.
Wirklich nicht? Dann bist du der Blinde von uns beiden, Phil.
Ich mag weder Paleikos misstrauischen Blick, noch schätze
ich seine mahnerischen Kommentare. Das Einfachste wäre, die
Puppe umzusetzen und ihr so die Sicht auf die beiden Karten,
am besten auch auf mich, zu nehmen. Ich tue es nicht, weil ich
glaube, dass Tereza mir Paleiko aus gutem Grund geschenkt
hat. Wer nicht lernt, auf sich selbst aufzupassen, braucht einen
Wächter.
AN BORD DER NAUTILUS
VISIBLES BIBLIOTHEK IST GROSS, von Helligkeit
durchflutet zu jeder Jahreszeit dank einer breiten,
zweiflügeligen Glastür. Die Tür wird durch weiße Holzstreben
in großräumige Gitter unterteilt, doch der Lack auf den Streben
ist längst gesplittert. Verschliertes, seit Ewigkeiten ungeputztes
Glas bricht das schräg einfallende Tageslicht in leuchtende
Säulen – Gottesfinger nennt Glass dieses Phänomen, weil es an
aufgefächerte Sonnenstrahlen erinnert, die an manchen Tagen
durch plötzlich aufbrechende Wolken auf das Land fallen, um
es wie mit Laserstrahlen abzutasten.
Die Flügeltür öffnet sich auf eine kleine, mit einem
marmornen Geländer versehene Terrasse. Über drei breite
Treppenstufen gelangt man von hier aus in den hinteren Teil des
Gartens. Die Stufen sind zersprungen, Unkraut und zarte
Schlingpflanzen haben sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte
in den Ritzen eingenistet und geduldig nach oben gearbeitet, bis
vor die Glastür, gegen die sie im Sommer als grüner Teppich
wogen. Im Winter türmen sich vor der Tür vom Wind
angetriebene Schneemassen.
Im Inneren der Bibliothek erheben sich an jeder Wand, bis
unter die hohe Decke, unzählige Regale. Als Glass nach Visible
kam, waren die Regalfächer praktisch leer, sie beherbergten
nichts als Staub und zwanzig bis dreißig zerlesene Romane.
Stella war keine große Bücherfreundin gewesen. Doch
irgendwann mussten sich hier richtige Bücher befunden haben,
denn in der Luft hing kaum wahrnehmbar der Geruch lederner
Einbände und von der Zeit angefressenen, vergilbten Papiers.
Als Dianne und ich die Bibliothek entdeckten, erkoren wir sie
kurzerhand zu unserem Spielzimmer. Mit Kreide zeichneten wir
die aneinander liegenden Quadrate von Himmel und Hölle auf
den Parkettboden, der unter jedem unserer Sprünge mit
ächzendem Knarren nachgab. Später, als der Reiz des Spiels
verflogen und das kreidegezeichnete Gitter bis zur
Unkenntlichkeit verwischt war, suchte ich die Bibliothek oft
allein auf. Ich stellte mich in die Mitte des hohen Raums, badete
im einfallenden Licht der Gottesfinger und malte mir aus, wie
sich auf magische Weise die Regale zu füllen begannen. Ich
musste nur die Augen schließen; sobald ich sie wieder öffnete,
würden sich, Rücken an Rücken, Tausende von Büchern
aneinander drängen, jedes von ihnen ein Schatz, den es zu
heben galt.
Lange Zeit blieben die Regale so leer, wie ich sie kennen
gelernt hatte. Die wenigen Bilderbücher, die Glass mitbrachte,
wenn sie abends abgearbeitet nach Hause kam, erschienen mir
eines Platzes in der Bibliothek nicht würdig. Andere eigene
Bücher besaß ich nicht, Stellas Romane waren für ein Kind
uninteressant. Tereza gab mir den Rat, meinen Lesehunger, der
von den Märchen und Geschichten angefacht worden war, die
sie Dianne und mir bei nächtlichem Kerzenschein, auf dem
burgunderroten Sessel sitzend, vorgelesen hatte, über die
städtische Bücherei zu stillen. Bald darauf trug ich ganze Arme
voller Bücher nach Visible, wo ich den alten Sessel in der Mitte
der Bibliothek aufgestellt hatte. Diesen schäbigen Sessel erhob
ich zu meinem Thron, auf ihm wurde ich zum Erschaffer von
Welten, zum König im Auge eines Sturms von Geschichten, die
bei der Lektüre der Bücher um mich herum zu wirbelndem
Leben erwachten. Die Rückwände der Regale barsten splitternd
unter den mächtigen Schwerthieben von König Artus und
seinen Rittern der Tafelrunde; aus dem Parkettboden brach
donnernd und von haushohen schwarzen Wellen umtost Moby
Dick, der weiße Wal; die Zwerge des Landes Liliput warfen
stecknadelgroße Enterhaken nach mir aus;
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