Andreas Steinhofel
Haare zurück.«
Jetzt wusste ich, warum die toten Tiere in den verstaubten
Vitrinen des Kellers Wolf so faszinierten. Mir wurde auch klar,
dass er völlig verrückt war, und mehr als einmal flüsterte
Paleiko mir zu, mich von diesem blonden Jungen fernzuhalten,
dessen seltenes Lächeln flüchtiger war als der Flügelschlag
eines Kolibris. Aber Wolf war mein einziger Freund. Allein zu
wissen, dass er existierte, erfüllte mich mit einem bis dahin nie
gekannten Glücksgefühl, das ich um nichts in der Welt
aufgeben wollte. Was ich für ihn bedeutete, teilte er mir nie mit.
Vielleicht brauchte er nur jemanden, der ihn von Zeit zu Zeit bei
seinen Reisen in die Dunkelheit begleitete.
Wolfs Vater war ein hellhäutiger, wortkarger Mann, der sich
seit dem Tod seiner Frau vor der Welt verbarg und den ich
entsprechend selten zu Gesicht bekam. Er schien nie zu lachen,
und niemals sah ich ihn Wolf zärtlich berühren. Falls ihm – was
ich nicht glaube – bewusst war, dass sein Sohn sich mit dem
kleinsten Paria der Stadt eingelassen hatte, war es ihm
gleichgültig. Er besaß ein Luftgewehr, und oft zogen Wolf und
ich mit dieser Waffe durch die Gegend, sammelten unterwegs
Blechbüchsen und anderen Müll, stellten die leblosen Ziele auf
Mauervorsprünge und Baumstämme und schossen darauf. Wolf
begleitete jeden seiner Schüsse mit einem geflüsterten »Peng!«.
Es war ein harmloses, aber verbotenes Vergnügen, dessen
größten Reiz die prickelnde Erwartung ausmachte,
möglicherweise dabei erwischt zu werden.
Unsere seltsame Freundschaft endete, als wir bei einem
unserer Streifzüge ein Vogelnest entdeckten. Das Nest war in
eine Astgabel gebaut, viel zu dicht über dem Waldboden. Es
saßen fünf junge Amseln darin, von den Altvögeln war nichts
zu sehen. Die Jungen hielten sich geduckt. Erst als ich sacht mit
einem Finger gegen den Rand des Nests tippte, reckten sie die
Hälse und öffneten die hungrigen Schnäbel. »Guck mal, Wolf,
wie niedlich!«, sagte ich.
»Peng!«, flüsterte es monoton, und unter der Mündung des
Luftgewehrs, das Wolf dem ersten der Vögel auf den
schutzlosen, mit dünnem Flaum bewachsenen Rücken gesetzt
hatte, platzte der kleine Körper auf und offenbarte Blut und
zerrissenes Fleisch.
Ich stand wie erstarrt, während Wolf nachlud und schoss,
nachlud und schoss; bis heute weiß ich nicht, warum ich mich
nicht auf ihn stürzte und ihn aufhielt. Schließlich ließ er das
Gewehr sinken, steckte einen Finger in das zerstörte Nest und
zog ihn wieder hervor. Mit der Sorgfalt einer sich das Fell
reinigenden Katze leckte er das klebrig rote Blut und ein paar
winzige Federn davon ab, um plötzlich unvermittelt
innezuhalten, konzentriert die Augen zusammenzukneifen und
in sich hinein zulauschen. Dann setzte er sich auf den
Waldboden und begann zu weinen. »Die armen Vögelchen«,
klagte er leise. »Die armen Vögelchen.«
Und etwas geschah mit seiner Stirn: Sie kräuselte sich, aber es
sah nicht so aus, als habe Wolf auch nur den geringsten Einfluss
darauf. Nein, es sah vielmehr so aus, als würde seine Stirn
bewegt, als fege ein unsichtbarer, bitterer Wind über das
Gesicht mit dem viel zu roten Mund hinweg und verursache
zwischen Haaransatz und Augenbrauen tiefe Wellen.
Der Anblick entsetzte mich zutiefst. Ich ließ Wolf unter dem
Baum zurück und rannte und stolperte, von wilder Scham
erfüllt, durch den Wald nach Visible, wo ich mich im
Badezimmer einschloss und stundenlang weinte, nicht um die
fünf ausgelöschten Leben der Vögel, sondern um das
ausgelöschte Leben meines einzigen Freundes Wolf.
Später ging ich, erschöpft und müde, in Diannes und mein
Zimmer und nahm Paleiko aus seinem angestammten Platz im
Regal. »Warum hat er das bloß getan?«, flüsterte ich.
»Weil er sehr, sehr unglücklich ist«, antwortete Paleiko.
»Sein Unglück hat ihn krank gemacht. Krank im Herzen und
krank in seinem Kopf.«
»Kann er nicht zu einem Arzt gehen?«
»Vielleicht. Aber ein Arzt kann ihm erst helfen, wenn Wolf
das will.«
»Und warum will er es nicht?«
»Weil sein Unglück es ihm verbietet.«
Am selben Tag beschloss ich, Diannes und mein gemeinsames
Zimmer zu verlassen und mich im zweiten Stock einzurichten.
Ich nahm mein Bett auseinander, um es in meinem neuen
Domizil wieder zusammenzubauen, entschied mich dann ganz
dagegen und nahm lediglich die Matratze mit. Die Einzelteile
des Bettes brachte ich auf den Dachboden, den ich mit
klopfendem Herzen zum
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