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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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dass er eben
noch über mich gebeugt neben meinem Bett gestanden hat, und
in die Dunkelheit blinzelnd, suche ich nach seinem Gesicht mit
den kantigen, auseinander strebenden Zügen und den
funkelnden Augen. Ich wage nicht, ihn anzusprechen. Aus
Angst vor einer Abfuhr trete ich mit meiner Sehnsucht auf der
Stelle.
In der folgenden Stunde verpasst Händel meinen unerfüllten
Wünschen einen zusätzlichen Dämpfer. »Schauen Sie sich das
genau an, meine Damen und Herren, und sagen Sie mir, was Sie
sehen«, fordert er uns auf, als er den Mathematikunterricht
einmal mehr für eines seiner berüchtigten Gedankenspiele
missbraucht.
Er trippelt zur Seite. Er hat ein Poster mit Klebstreifen an der
Tafel befestigt – das doppelseitige Hochglanzfoto einer nackten
Frau, auswechselbar, künstlich, und dennoch aufreizend, wie
man es aus jedem beliebigen Männermagazin kennt. Stühle
rücken unruhig hin und her, begeisterte Pfiffe erfüllen die
Klasse.
»Ich sehe jedenfalls keinen nackten Mann«, moniert Kat
neben mir, laut genug für Händel, es zu hören. Er deutet eine
entschuldigende, leicht ironische Verbeugung in ihre Richtung
an, die von Kat mit einem gnädigen Nicken entgegengenommen
wird. Ich weiß, dass er Kats Fortschritte beim Geigenspielen
seit Jahren wohlwollend aus dem Hintergrund registriert.
»Woher haben Sie das Pin-up?«, ruft jemand aus einer der
hinteren Reihen.
»Tut nichts zur Sache.« In der geschnaubten Antwort liegt
eine Spur von Missmut. Händel spreizt die fleischigen Finger
und hebt mit dramatischer Geste beide Arme, als wolle er der
Klasse den Segen erteilen. »Was sehen Sie?«
Nicholas straft das Poster mit Missachtung und betrachtet
stattdessen seine Fingernägel. Händels dicke Hände senken sich
wieder nach unten, um dann in rascher Folge drei weitere Bilder
an die Tafel zu heften: die Reproduktion eines
expressionistischen Gemäldes – scharfkantige Flächen und
Farben, die Fieberphantasien entsprungen scheinen. Das
Werbeplakat einer Versicherungsgesellschaft – Familie mit
Kind vor einem Eigenheim, ein springlebendiger Hund tollt
durch einen giftgrünen Garten. Schließlich die grobkörnige
Vergrößerung der Fotografie einer Küstenlandschaft – Klippen
wie Reißzähne eines längst ausgestorbenen Tieres, das Meer ein
einziges aufgewühltes, blaues Kochen.
»Sie müssen lernen zu abstrahieren«, sagt Händel. Er ist
neben die Tafel getreten, seine Hände sind gefaltet, die
Zeigefinger tippen nervös gegeneinander. »Schauen Sie hinter
die Dinge, misstrauen sie der Oberfläche. Lassen Sie sich nicht
belügen, und belügen Sie sich nicht selbst! Was sehen Sie?«
Ich sehe, wie Nicholas langsam die dunklen Augen schließt
und nickt.
ICH BETRACHTE OFT die beiden Wandkarten, die ich vor
sechs Jahren aus dem alten Keller der Schule mitgenommen
habe, Nordamerika und die ganze Welt. Damals, nach dem
erschreckenden Vorfall mit Wolf und meinem darauf folgenden
Umzug in den ersten Stock Visibles, hatte ich die Karten sofort
an einer Wand meines neuen Zimmers aufgehängt. Ich kramte
alle Postkarten aus, die Gable uns je geschickt hatte, und
begann, die exotischen Orte, von denen sie erzählten, auf der
Weltkarte zu suchen und mit Stecknadeln zu markieren, die rote
Köpfe hatten. Grüne Nadeln steckte ich in Länder und Städte,
Meere und Inseln, die ich irgendwann besuchen wollte, sei es
aufgrund ihrer schönen, geheimnisvollen Namen oder einfach
deshalb, weil es dort berühmte Bauwerke oder Naturwunder zu
bestaunen gab. Jede grüne Nadel war für mich eine sichtbare
Bestärkung meines Willens, der Stadt und Visible eines Tages
den Rücken zu kehren.
An der gegenüberliegenden Wand sitzt Paleiko auf seinem
Stammplatz, oben im Regal, und starrt quer durch den Raum auf
diese Karten. Der großäugige weiße Blick aus dem Schwarz
seines Mohrengesichts heraus ist voller Misstrauen und Skepsis.
Der in die Stirn gebettete Kristall funkelt wie ein kleiner Stern.
Paleiko hat seit Jahren den Mund nicht geöffnet – er wird ihn
auch nie wieder öffnen, dessen bin ich mir sicher. Und doch
glaube ich manchmal zu sehen, dass seine Lippen sich in einem
dunklen Flüstern bewegen.
Du schaffst es nie, Phil.
Doch, du verdammter schwarzer Miesmacher! Eines Tages
verschwinde ich von hier.
Das glaube ich erst, wenn ich es sehe.
Du kannst nichts sehen. Du bist blind, deine Augen sind nichts
als weiße Farbkleckse auf schwarzem Porzellan. Was soll mich
daran hindern, von hier zu verschwinden?
Jeder weitere Tag,

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