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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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ersten Mal betrat. Spinnennetze
spannten sich zwischen staubigen Holzbalken, an denen
unzählige graue Wespennester hingen wie kleine Ballons, die
unter der leisesten Berührung knisterten und zu Staub zerfielen.
Ich fand uralte, kaputte Möbel, Stapel von vergilbten
Zeitschriften sowie Kisten und Kartons, gefüllt mit
unbrauchbarem Plunder. Ich entdeckte weder Dornröschen noch
seinen Prinzen. Falls die beiden je hier oben existiert hatten,
dann waren sie an diesem Tag von Wolf zu sich in die
Dunkelheit geholt worden.
    WIR STEHEN UNTER dem Blätterdach einer der alten
Kastanien auf dem Schulhof. Kat nuckelt Milch aus einem
Plastikbecher. Sonnenlicht sickert durch das mattgrüne Laub
und fällt auf ihre blonden Haare. Der August nähert sich
langsam seinem Ende, die Tage werden merklich kürzer. Der
Sommer verblasst und verliert an Kraft. »Er sammelt Zeugs«,
sage ich.
    »Was?«
»Der Läufer. Er sammelt irgendwelches Zeugs.«
Ich zeige auf Nicholas, der sich abseits des allgemeinen
    Pausengetümmels mit ein paar Jungen aus unserem Jahrgang
unterhält, zweifellos Mitglieder seines täglich größer werdenden
Fanclubs. Am vergangenen Wochenende hat er bei den
Kreismeisterschaften im Langstreckenlauf den ersten Platz
belegt.
    »Ist mir schon ein paarmal aufgefallen«, fahre ich fort,
»Einmal auf dem Weg zum Sportplatz, dann hier auf dem
Schulhof. Neulich hat er sogar irgendwas auf dem Papierkorb
im Klassenzimmer gefischt.«
    »Was denn?«
»Weiß nicht. Ich war immer zu weit entfernt.«
»Du spinnst, weißt du das?«
»Tu ich nicht.«
Als habe er uns belauscht, und wie um Kat zu widerlegen,
    geht Nicholas, ohne sich aus dem Kreis seiner Bewunderer zu
lösen, in die Knie. Es sieht aus, als wolle er lediglich einen
Schnürsenkel binden. Seine rechte Hand greift nach etwas, das
neben ihm auf dem Boden liegt; als er sich wieder aufrichtet,
verschwindet die Hand in seiner Hosentasche. Die ganze Aktion
erfolgt mit einer solchen Beiläufigkeit, so ohne jeden Versuch,
sie zu verheimlichen, dass es mich nicht wundert, dass diese
Sammeltätigkeit weder Kat noch sonst jemandem bisher
aufgefallen ist. Es ist wie in dieser berühmten Geschichte von
Edgar Allen Poe, in der ein paar Leute verzweifelt einen
wichtigen Brief suchen und dabei ein Zimmer mehrmals auf den
Kopf stellen, nur um schließlich festzustellen, dass das
Dokument, gut sichtbar für jeden, seit eh und je in einem
Bilderrahmen an der Wand hängt.
»Und?«, wende ich mich an Kat.
     
»Vielleicht Kastanien«, sagt sie nüchtern. »Die sollte er den
    Kleinen aus der Unterstufe lassen.«
Ich deute nach oben, in einen der Bäume. »Die kommen
frühestens in einer Woche runter.«
Kat zuckt gleichgültig die Achseln. »Soll ich ihm meinen
Milchbecher vor die Füße werfen? Vielleicht nimmt er ihn mit.
Spart mir den Weg zum Abfallkorb.«
»Tut er bestimmt nicht.«
Es ist nicht Abfall, den der Läufer sammelt. Auf dem
Schulhof liegen alle möglichen Dinge herum – achtlos
Fallengelassenes und Verlorenes. Man muss sich nur die Mühe
machen, genau hinzusehen: hier ein Knopf, dort ein Kamm mit
zerbrochenen Zinken; ein Bleistiftstummel, ein Streichholzbrief,
eine kleine Anstecknadel, vielleicht ein Geldstück. Ich bin mir
sicher, dass nichts davon Nicholas’ Blick entgeht. Aber er ist
wählerisch, und es ist mir ein Rätsel, nach welchen Kriterien er
irgendeinen dieser Gegenstände entweder unbeachtet lässt oder
ihn aufhebt und einsteckt.
»Was glaubst du, was er mit den Sachen macht?« »Frag ihn
doch, wenn es dich so sehr interessiert. Oder traust du dich
nicht?« Das Pausenklingeln mischt sich in das Knacken des
leeren Plastikbechers, den Kat zerdrückt. »Was ist, kommst
du?«
Ich folge ihr schweigend. Ohne es zu wissen, hat sie mit ihrer
Frage mein derzeit größtes Problem auf den Punkt gebracht: Ich
versuche nicht mehr, den Läufer auf mich aufmerksam zu
machen. Trotzdem scheinen all meine Gedanken sich nach wie
vor hartnäckig auf der Spitze einer Kompassnadel zu sammeln,
die unbeirrbar, mit trotziger Beharrlichkeit, auf Nicholas
ausgerichtet bleibt. Er spukt schon längst durch meine Traume.
Tagsüber ergehe ich mich in Phantasien, in denen seine Arme
mich umfangen, in denen seine langen Beine, die auf der
Aschenbahn wie gut geölte Maschinen arbeiten, sich an meinen
reiben. Ich küsse seine schlanken Hände, die mich fast
schmerzhaft an die des Bogenschnitzers Kyle erinnern. Nachts
werde ich unvermittelt wach, mit der Gewissheit,

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