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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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ganze
Menge anderer Menschen, aber von ihrer Sorte springen auf
diesem Planeten genug herum. Wer sie nicht besser kennt,
würde sie vielleicht als exzentrisch oder ein bisschen verrückt
bezeichnen. Aber das ist alles.«
»Eben, als verrückt«, bestätigt Kat. »Aber nicht als begabt,
oder? Außergewöhnlichkeit hat nichts mit Begabung zu tun.«
Nein, denke ich, sie hat etwas mit Wunden zu tun. Nur zwei
Sorten von Menschen gehen keine Kompromisse ein:
diejenigen, die über einen von Natur aus festen, meist mit
mangelnder Einsicht in Unabänderlichkeiten gepaarten Willen
verfügen. Und diejenigen, die so heftig verletzt wurden, dass sie
ihr Herz in einen Panzer kleiden. Was das angeht, bilden meine
beste Freundin und meine Mutter zwei Seiten derselben
Medaille. Es ist kein Wunder, dass Kat Glass zum Idol erhoben
hatte.
»Glaubst du«, spinnt Kat den Faden weiter, »dass wahre
Außergewöhnlichkeit nur möglich ist, wenn man wahnsinnig ist
oder so was?«
Ich grinse. »Hältst du Glass für wahnsinnig?«
»Nein. Dann schon eher deine Schwester.«
»Ihr sprecht ein großes Wort gelassen aus.«
»Sagt wer?«
Ich zucke die Achseln. »Im Zweifelsfall immer Shakespeare.«
»Oder Goethe.«
»Schiller?«
Kat hebt einen Finger: »Brad Welby.«
»Wer zum Teufel ist Brad Welby?«
Sie bricht in Kichern aus. »Er schreibt die Arztromane, die
meine Mutter heimlich liest. Und er ist wirklich
außergewöhnlich.«
»Wahnsinnig außergewöhnlich?«
»Außergewöhnlich wahnsinnig, und wahnsinnig schlecht.«
Kat stellt sich ans Fenster. Ich trete neben sie und blicke auf
die Dächer der Stadt, auf denen eine dunstige Glocke träge
wabernden Septembernebels liegt.
»Vielleicht«, sagt Kat nachdenklich, »ist es genau das, was
dieser Stadt fehlt. Es gibt hier zu wenig Wahnsinn.«
Ich schüttele den Kopf. Ich denke an Frauen wie Irene, die in
ihrer inneren Einsamkeit UFOs an den Himmel gemalt hat, und
ich sehe Annie Glösser in roten Schuhen durch die Straßen
tanzen. Ich denke an Jungen wie den Brocken und an seine
unglückliche Mutter. Ich denke an Wolf, an sprühenden roten
Nebel, so viel Unglück.
»Es ist eher umgekehrt, oder?«, sage ich. »Vielleicht gibt es
hier zu viel davon.«
»Vielleicht, ja.« Kat zuckt die Achseln und sieht mich an.
Unsere Unterhaltung beginnt sie zu langweilen. »Lust auf Eis?«
»Anschließend Schwimmbad?«
»Gut. Gehen wir.«
Also gehen wir. Und ich komme mir vor wie ein Verräter.
ICH KANN NICHT EINSCHLAFEN. Je mehr ich mich zu
entspannen versuche, umso verkrampfter werde ich. In meinem
Kopf drehen sich gigantische Schiffsschrauben; ganz gleich, ob
ich die Augen offen oder geschlossen halte, tanzen davor
regenbogenfarbene Flecken. Noch eine Nacht – das Gefühl
gleicht der Vorfreude auf Weihnachten oder auf die Ferien, nur
weiß ich nicht, was genau mir beim Treffen mit Nicholas
bevorsteht. Was ich genau weiß, ist, dass es keinen Sinn hat,
sich darüber Gedanken zu machen. Male dir neunundneunzig
Variationen aus, und du stolperst in Szenario Nummer hundert.
In der Schule habe ich nicht mit Nicholas gesprochen, zum
Teil, weil ich befürchtete, Kat könne unangenehme Fragen
stellen, zum Teil, weil er auf dem Pausenhof zwar meinem
Blick begegnet ist und schwach gelächelt hat, aber von sich aus
keine Anstalten machte, auf mich zuzukommen.
Als mein Wecker zwei Uhr zeigt und ich noch immer das
Gefühl habe, mich langsam von einem Menschen in eine gut
geölte Sprungfeder zu verwandeln, steige ich aus dem Bett.
Barfuß tapse ich hinaus in den Flur, eine Minute später stehe ich
im Erdgeschoss vor Glass’ Schlafzimmer. Ich drücke die Tür
einen Spalt auf. Dahinter liegt absolute Dunkelheit.
»Glass?«
Ein unwilliges Knurren vom anderen Ende des Raums ist die
Antwort.
»Darf ich reinkommen?«
»Was ist los? Brennt das Haus?«
»Nein.« Ich bleibe unschlüssig im Türrahmen stehen. »Ich…
also, ich bin morgen mit einem Jungen verabredet.«
»Schön für dich, Darling.«
»Mum!« Dafür, dass ich den ganzen gestrigen Abend zur
Stelle gewesen bin, um Michael für sie zu kommentieren, finde
ich ihr Desinteresse reichlich ungerecht.
Ein Räuspern. »Du willst von mir wissen, was du machen
sollst, oder?«
»Ja… So in etwa.«
Eine kurze Pause entsteht. Den Geräuschen nach zu urteilen,
wird sie von Glass dazu genutzt, ihre Bettwäsche zu ordnen.
»Gut, ich gebe dir also einen mütterlichen Rat – ich gebe dir
sogar drei, wenn du mir versprichst, mich danach in

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