Andreas Steinhofel
schwachbrüstige Nachtbeleuchtung tut ein Übriges: Ihr
bläuliches Licht allein würde ausreichen, alles und jeden im
weiten Umkreis krank erscheinen zu lassen. Glass ist hier
gewesen, nach ihrer Fehlgeburt.
»Ich hasse Krankenhäuser, Darling«, flüstert sie mir zu.
Michael ist an den Getränkeautomaten gegangen und wartet
darauf, dass die Maschine Kaffee ausspuckt.
»Ich weiß.«
»Hier schwirren mehr Bakterien herum als irgendwo sonst auf
der Welt!«
Das erzählt Glass, seit ich mich erinnern kann. Ihr Blick,
nervös, nahezu eingeschüchtert, huscht hin und her. Vielleicht
sollte ich ihr erklären, dass man Bakterien ohne optische
Hilfsmittel nicht sehen kann.
»Lass mich bloß niemals in so einem Schuppen sterben, hörst
du?«
Ich kann ihr Unbehagen verstehen, auf gewisse Weise teile ich
es sogar. Wenn ich mich außerhalb Visibles bewege, stellt sich,
oft nur für einen kurzen Moment, das Gefühl ein, dass ich selbst
und meine unmittelbare Umgebung die gegenpoligen Teile
eines Magneten bilden: Die Welt stößt mich ab.
Meist ist dieses Gefühl überlagert von anderen, stärkeren
Eindrücken. Aber vorhanden ist es immer, wie ein statisches
Rauschen, das über Jahre hinweg an Intensität eingebüßt hat,
aber sofort wahrnehmbar wird, sobald man sich darauf
konzentriert.
Das Flüstern von Kreppsohlen auf Linoleum reißt mich aus
meinen Gedanken, dann steht die Nachtschwester vor uns –
steht nicht einfach dort, sondern baut sich vor uns auf, ein
Bollwerk gegen die Eindringlinge, die gekommen sind, die
heilige, kranke Ruhe des Hospitals zu stören. Unter einem
lächerlich kleinen weißen Häubchen strahlt ein rundliches,
rosiges Gesicht, ein fast Zuviel an Gesundheit, dem das
kränkliche blaue Licht nichts anzuhaben vermag. Ein kurzes
Aufleuchten ihrer Augen reicht aus, um deutlich zu machen,
dass sie Glass erkannt hat. Es scheint keinen Jenseitigen zu
geben, der Glass nicht kennt. Der uns nicht kennt.
»Sie kommen zu spät«, sagt die Nachtschwester. »Die
Mädchen sind schon fort.«
Fast erwarte ich, dass sie ihre Stimme ebenfalls mit Helium
veredelt hat, doch die klingt ganz normal und angenehm leise.
Mir fällt auf, dass die Frau kein Namensschild trägt.
»Die Mädchen?«, fragt Glass.
»Ihre Tochter und die andere, die den Jungen hier abgeliefert
haben. Kora?«
»Ist das Diannes Freundin?«, raunt Glass mir zu.
Ich zucke hilflos die Achseln. Ich erinnere mich an das blonde
Mädchen, das ich zweimal gesehen habe, einmal in der Schule,
dann an der Bushaltestelle – ein blondes Mädchen, das Kora
heißt und das möglicherweise Zephyr ist, die Adressatin der in
Diannes Schreibtisch versteckten und nie abgesandten Briefe,
vielleicht aber auch nicht. Ich weiß nichts über Dianne. Glass
weiß noch weniger. Plötzlich schäme ich mich für uns beide.
»Wo sind sie hin?« Glass hebt eine Hand und zeigt zur
Eingangstür. »Nach Hause gegangen? Wir sind extra mit dem
Wagen…«
»Sie sind beide bei der Polizei.«
»Warum bei der Polizei?«, schaltet Michael sich ein. Er
jongliert den Plastikbecher mit dem sichtlich zu heißen Kaffee
von einer Hand in die andere.
»Sie wurden angezeigt. Von den Eltern des Jungen.« Die
Nachtschwester gibt ihre Informationen so sachlich von sich, als
verlese sie die Wettervorhersage. »Der Hund hat ihn übel
zugerichtet.«
Sie verlagert ihr Gewicht nach vorn, dann wieder zurück, und
räuspert sich vernehmlich in meine Richtung, vermutlich weil
ich auf ihre Brust gestarrt habe, immer noch auf der
vergeblichen Suche nach dem Namensschildchen, diesem
Anstecker, der an ihre gestärkte Bluse geheftet sein müsste, um
Besuchern wie Patienten zu verraten, mit wem sie es zu tun
haben. Ich spreche kein Wort mit dieser rosaroten Frau, habe
auch nicht vor, das zu tun – das Reden sollen Glass und Michael
übernehmen -, und dennoch irritiert es mich, ihren Namen nicht
zu kennen. Ich bin so müde, dass ich auf der Stelle einschlafen
könnte.
»Angezeigt?«, wiederholt Glass. »Ich dachte, die zwei hätten
den Jungen hierher gebracht. Ist vollzogene Hilfeleistung seit
neuestem ein Verbrechen?«
Die Nachtschwester zuckt die Achseln. »Ich kann nur
wiedergeben, was der Junge gesagt hat. Er ging irgendwo am
Fluss spazieren und hat dabei die Mädchen gesehen. Die haben
gebadet. Nachts.«
Das letzte Wort hat einen bedeutungsschwangeren, leicht
vorwurfsvollen Unterton, jedenfalls einen Unterton, der Glass
nicht passt. »Es ist Viertel nach
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