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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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von sich aus auf sich aufmerksam. Es
war ein Sirren in der Luft, das sich über dem Haus konzentrierte
und das Glass und mich, nachdem wir bereits eine halbe Stunde
erfolglos herumgeirrt waren, aufblicken ließ. Meine Schwester
saß auf dem Dach von Visible, ungefähr in der Mitte des Firstes
und nahe einem der großen Schornsteine, wo sie deutlich
auszumachen war, denn sie trug ihr weißes Sommerkleid –
dasselbe Kleid, das sie im Jahr darauf fortwerfen musste, weil
es nach der Schlacht am Großen Auge blutbesudelt war. Um sie
herum flatterten wie ein Schwarm ausgelassener Sperlinge,
einer sich auflösenden und wieder verdichtenden Wolke gleich,
Dutzende von Fledermäusen. Erst viel später ging mir auf, dass
es nicht Dianne war, die die Fledermäuse angelockt hatte,
sondern die meine Schwester ebenfalls umschwirrenden
Mücken und Nachtfalter.
Glass hatte bereits die Taschenlampe nach oben gerichtet. Der
Lichtkegel fächerte sich über die Entfernung hinweg so weit
auf, dass er Dianne kaum erfasste. Trotzdem bildete ich mir ein,
die Augen meiner Schwester aufblitzen zu sehen.
»Wie bist du da raufgekommen?«, rief Glass.
»Geklettert.«
Das konnte nicht schwierig gewesen sein. Von allen Seiten
reichten Äste der umstehenden Bäume, stabil und so dick wie
Telegrafenmasten, bis dicht an das Dach von Visible, zum Teil
sogar darüber hinaus.
»Und was, zum Teufel, machst du da oben?«
»Nichts.«
»Du kommst sofort wieder runter. Das Dach ist baufällig.«
»Nein.«
Glass nickte knapp, als hätte sie diese Antwort erwartet. Sie
knipste die Taschenlampe aus und marschierte wortlos ins Haus
zurück. Ich nahm an, dass sie über den Dachboden an Dianne
heranzukommen versuchen würde, überlegte, ob ich ihr
nachlaufen oder hier draußen abwarten solle, was geschah, und
entschied mich fürs Warten. Der Dachboden war unheimlich. Es
gab dort Geister.
Aber nichts geschah. Ich zählte die Sekunden, fünf lange
Minuten vergingen, doch Glass tauchte nicht mehr auf, weder
auf dem Dach noch vor dem Haus. Die Situation war
gespenstisch. Ich rief Diannes Namen, erhielt aber keine
Antwort ; sie blieb stumm, ein unbewegter weißer Klecks auf
dem Dachfirst, der wie ein Trugbild flackerte, sobald die
schwarzen Silhouetten der Fledermäuse davor herumtorkelten.
Schließlich ging ich ins Haus. Ich fand Glass in der Küche. Sie
stand am Herd, wo sie sich Teewasser aufgesetzt hatte, wie
jeden Abend um diese Zeit.
»Wenn sie glaubt, dass sie mich damit rumkriegen kann, hat
sie sich geschnitten.«
Während sie die Worte in die Luft spuckte, goss sie siedendes
Wasser in die Teekanne. Anschließend setzte sie sich an den
Tisch, zündete eine Zigarette an und verschwand hinter einem
Schleier aus Rauch. Sie trank den Tee und versuchte wie die
Ruhe selbst zu wirken, doch ihre Schlucke waren zu klein und
zu hastig. Ich spürte, dass es sie eine immense
Willensanstrengung kostete, mir eine Gelassenheit
vorzugaukeln, die sie nicht empfand – im Gegenteil: Ihr Zorn
erfüllte die ganze Küche, er ging in konzentrischen Kreisen von
ihr aus wie Wellen in einem Gewässer, in das man einen Stein
geworfen hat. Mein Mund war ausgetrocknet, wie versiegelt.
Ich stand in der Tür, und auf meinen Schultern lastete ein
tonnenschweres Gewicht, ganz Visible, gekrönt von Dianne.
»Ich weiß, was ich tue«, war das Einzige, was Glass sagte.
Der Satz mochte ebenso für sie selbst bestimmt sein wie für
mich, in jedem Fall jagte er mir eine Höllenangst ein. Offenbar
war ich der Einzige, der nicht den Schimmer einer Ahnung
hatte, um was es hier ging. Ich spürte nur, dass ein Kampf
ausgetragen wurde: Glass und Dianne waren die ungleichen
Kriegerinnen, unsere kleine Familie und Visible das
Schlachtfeld. Aber warum wurde gekämpft, und was war der
Preis? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Glass sich wirklich
daran störte, wenn Dianne von Hunden beschnüffelt wurde,
wenn ihr Katzen um die Beine strichen oder Insekten sich auf
ihr niederließen als wäre sie ein Topf Honig. Es musste um
mehr gehen.
Glass ging zu Bett, ohne nach Dianne gesehen oder mir auch
nur eine gute Nacht gewünscht zu haben. Ich fühlte mich zu
Unrecht bestraft und rannte nach draußen. Dianne hatte sich
nicht von der Stelle gerührt, sie thronte noch immer auf dem
Dachfirst, als wäre sie die Königin der Fledermäuse und würde
dort oben nächtliche Audienz halten. Ich überlegte, ob ich zu ihr
hinaufklettern sollte, wusste aber

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