Andreas Steinhofel
zwölf«, schnappt sie, »und die
Sache muss fast eine Stunde her sein! Wann fängt für Sie die
Nacht an?«
»Wenn es dunkel wird«, antwortet die Nachtschwester. »Oder
spätestens dann, wenn unbescholtene Bürger im Bett liegen.«
»Ach ja?« Glass blitzt sie an. »Wenn alle so unbescholten sind
wie Sie, langweilen sie sich dort bestimmt zu Tode.«
»Nun, auf die eine oder andere Art müssen die Bilanzen sich
wohl ausgleichen. Es kann nicht jeder ein so ausgefülltes Leben
haben wie Sie.«
»Würden Sie freundlicherweise erklären, wie ich das
aufzufassen habe?«
»Nein. Es sei denn, Sie lassen mich freundlicherweise meine
Arbeit machen. Ich kann verstehen, dass Sie Ihre Tochter in
Schutz nehmen, aber das ist kein Grund, mich zu beleidigen.«
Michael hat während dieses kurzen Schlagabtausches
zwischen den beiden Frauen hin- und hergesehen wie der
Zuschauer eines Pingpong-Matchs. »Es tut uns Leid«, wendet er
sich jetzt an die Nachtschwester, »wir sind nur etwas erschreckt,
das ist alles. Ich hoffe, Sie haben dafür -«
»Sag niemals wir, Michael«, fällt Glass ihm ins Wort, sehr
ruhig und so kalt, dass ich erwarte, den dampfenden Kaffee in
dem Plastikbecher zwischen Michaels Händen gefrieren zu
sehen. »Mir tut gar nichts Leid.«
Michael lässt sie und ihren Einwand einfach links liegen, er
dreht sich nicht einmal zu ihr um. Wie ich meine Mutter kenne,
steht auf dieses Vergehen die Höchststrafe – schleichender
emotionaler Tod durch Liebesentzug -, doch sie sagt nichts
mehr. Sie betrachtet den Boden zu ihren Füßen, als hätte sie
dort gerade ein interessantes Muster in dem zerschabten
Linoleum ausgemacht. Vielleicht hat Michael einfach Glück.
Glass hat sich auf die Nachtschwester eingeschossen und ist zu
müde für einen Zweifrontenkrieg.
»Wie heißt der Junge?«, fragt Michael die Nachtschwester.
Die Frau nennt einen Namen, den ich nie zuvor gehört habe.
»Seine Eltern sind noch hier, falls Sie mit denen sprechen
möchten.«
»Nicht, bevor ich bei der Polizei war und mit den Mädchen
geredet habe.« Michael greift in die Innentasche seines Jacketts.
»Sie sind so freundlich, den Eltern meine Karte zu
überreichen.«
Er ist so beherrscht, so souverän. Glass benutzt ihre Stimme
als Instrument, um die Menschen mit ihrem Sirenengesang zu
betören. Michael macht die Menschen selbst zu Instrumenten, er
spielt auf ihnen wie auf einer Klaviatur. Das Lächeln, das er der
Nachtschwester schenkt, ist kaum wahrnehmbar, es bittet um
Nachsicht für Glass, deutet deren Verwirrtheit an, verspricht ein
rasches Beenden der unangenehmen, anstrengenden Situation.
Es macht die Schwester zu seiner Komplizin.
»Wie geht es dem Jungen?«
Die namenlose Frau lächelt zurück, froh, einen unerwarteten
Verbündeten gefunden zu haben. »Den Umständen
entsprechend.« Sie nimmt die Visitenkarte entgegen. »Da wird
einiges an Narben zurückbleiben.«
»Das Gesicht?«
»Nichts abgekriegt.«
»Gut. Und der Hund gehört diesem Mädchen… Kora?«
Ohne einen Blick darauf geworfen zu haben, steckt die
Nachtschwester die Visitenkarte in ihre Brusttasche, in die
Brusttasche, an der das verdammte Namensschild fehlt, ich
weiß nicht, warum ich seit meiner Ankunft in Visible und der
Fahrt zum Krankenhaus so neben mir stehe, warum
ausgerechnet dieses fehlende Namensschild mich so verrückt
macht. »Nein«, sagt sie. »Der Hund gehört dem Jungen.«
Selbst jetzt hat Michael sich unter Kontrolle. Kein Schwanken
der Stimme, nicht das kleinste Zucken der Mundwinkel, seine
Augen verengen sich nicht um einen Millimeter. »Er ist von
seinem eigenen Hund angefallen worden? Dann sehe ich,
ehrlich gesagt, keinen Grund für eine Anzeige.«
»Nun, das müssen Sie dann wohl mit den Eltern ausmachen.
Der Junge behauptet jedenfalls, eines der Mädchen hätte den
Hund auf ihn gehetzt. Er sagt, es hätte mit dem Hund geredet.«
Die Nachtschwester hat die Lippen geschürzt. Sie hat jetzt Glass
fest im Blick. »Mehr weiß ich nicht.«
Aber ich weiß.
Und Glass weiß.
Sie sieht mich an und flüstert: »Verdammt!« Aus dem
Schützengraben ertönt ein vernehmliches Rascheln. Der
Totenschädel hat jedes Wort mitgehört. Er wird eine knappe,
kleine Geschichte aus seinem Wissen machen, die er mit hoher
Stimme erzählen und der jeder lauschen, die jeder verstehen
wird, auch wenn darin die Hälfte aller Wörter fehlt. Es hört
niemals auf, und es wird niemals aufhören, auch wenn unsere
Familie den Exotenstatus
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