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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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hatte, lachte leise auf, und
ich leerte meinen Punsch und verscheuchte mit wedelnden
Händen die Mücken.
    AN DER AUSSENSEITE DES FENSTERS läuft in breiten
Bahnen Regen herunter. Die von ihm hinterlassenen Schlieren
verwandeln die dahinter liegende Welt in ein graues Zerrbild.
Die Heizung tickt. Wir liegen nackt auf dem Bett, Seite an Seite
in befleckten Laken, verschwitzt. Nicholas’ Rücken und sein
Hinterkopf sind dunkel im trüben Gegenlicht, sein linker Arm
bildet eine schlanke Gerade auf dem weißen Untergrund. Auf
dem Fußboden neben dem Bett stehen zwei große Becher, beide
halb voll mit erkaltetem Hagebuttentee. Etwas anderes als die
von Sommergästen vergessenen Teebeutel war in der Küche
nicht auf zutreiben.
    »Vollmond«, murmelt Nicholas neben mir.
»Was?«
»Heute ist Vollmond. Menschen tun verrückte Dinge bei
    Vollmond. Sie stehlen tote Männer aus ihren Särgen und
vergraben sie im Garten.«
»Sie tun auch verrückte Dinge, wenn die Sonne scheint.«
Er antwortet so leise, ein müdes Flüstern, dass ich die Worte
nicht verstehe. Ich sehe zu, wie die Fenster von innen
beschlagen. Mir ist schwindelig, ich schiebe es auf
Erschöpfung, Sauerstoffmangel, auf die stickige, sich unter der
Zimmerdecke stauende Luft. Ich nehme an, dass Nicholas
eingeschlafen ist, doch dann spüre ich seine Hand auf meinem
Rücken, warm und federleicht tastet sie sich über einzelne
Wirbel nach unten, sengt mir Löcher in die Haut, kommt zur
Ruhe; dann erst schläft sie ein.
Dreimal haben wir uns geliebt. Nur ist Liebe nicht das richtige
Wort. Ich drehe mich auf den Rücken, starre die Zimmerdecke
an und gestehe mir widerwillig ein, dass Pascal es auf den Punkt
gebracht hat, als sie sagte, wir hätten bloß gevögelt; sie hat mir
nicht erklären müssen, dass zwischen dem einen und dem
anderen Welten liegen können. Aber ich will mehr, ich will
mehr, mehr als das. Nichts erscheint mir in diesem Moment
flüchtiger, nichts könnte mir hier und jetzt mehr Furcht einjagen
als der Körper, der sich an meiner Seite in den Schlaf
zurückgezogen hat. Ich will zu der Luft werden, die Nicholas
einatmet, zu seinem Blut, zu seinem Herzschlag, zu allem, ohne
das er nicht mehr leben kann, und ich höre Pascal spotten, ich
könne mir genauso gut wünschen, dass mir goldene Flügel
wachsen.
Irgendwann schlafe ich ein. Als ich erwache, liegt der Raum
in tiefem Dunkel. Der Regen ist verstummt, tiefe Stille liegt
über dem Haus. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe,
es müssen Stunden vergangen sein. Ich taste nach Nicholas,
doch der Platz neben mir ist leer, das Laken kalt.
    Es SOLLTE DAS ENDE dieses Tages sein, aber das ist es
nicht. Als ich kurz vor Mitternacht in Visible ankomme, werde
ich von Glass erwartet. Sie steht vor dem Haus. Im Mondlicht
wirkt sie sehr blass, abgekämpft beinahe. Überrascht nehme ich
in ihrem Gesicht zum ersten Mal kleine Falten wahr, die sich
heimlich dort eingegraben haben müssen; zum ersten Mal denke
ich, dass meine Mutter alt wird. Es ist, als wäre ich lange auf
Reisen gewesen.
    Glass trägt keine Jacke, trotz der klaren Frische, die der Regen
hinterlassen hat; sie steht einfach dort, viel zu klein vor dem
großen Haus, als warte sie auf den Bus. Aber es ist Michael, den
sie erwartet, damit er sie zum Krankenhaus bringt. Auch das ist
eine Überraschung, immerhin könnte sie selber fahren, und es
ist absurd, dass ich mir nicht die Frage stelle, was Glass um
diese Zeit im Krankenhaus will, weil ich in diesem Augenblick
nur daran denken kann, dass ich nach Nicholas rieche, dass ich
selbst dann noch daran denken muss, als Glass mir erklärt, es
sei Dianne, die wir im Krankenhaus abholen werden, ich müsse
mir keine Sorgen machen, es ginge ihr gut, so viel wisse sie,
aber es habe Ärger gegeben.
DIANNE AUF DEM DACH
    »DIE LEIDENSCHAFTEN, meine Damen und Herren, die
Leidenschaften! Lassen Sie sich nicht von ihnen beherrschen!
Sie verwirren Ihren Verstand, unterwerfen Sie ihrer Kontrolle.
Und kommen Sie mir nicht mit Hormonen oder dem
Unterbewusstsein. Zügelung! Beherrschung!«
    Händel stolzierte vor seinem Pult auf und ab. Nach jedem
dritten oder vierten Schritt blieb er stehen, um kurz auf den
Zehenspitzen zu wippen, kehrtzumachen wie ein
Tanzpüppchen, dabei einen Blick über seine mehr oder minder
aufmerksamen Zuhörer zu werfen und dann eine neue Salve von
Sätzen auf uns abzufeuern.
    »Einst gab es ein goldenes Zeitalter der Ratio. Die

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