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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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verfügt, dass auf den verkohlten
Grundmauern der Brauerei ein Hospital entstehen solle! Und
damit steht heute an jener Stelle unser hässliches Krankenhaus,
in dem der reinen Vernunft verpflichtete Wissenschaftler sich
unter anderem mit Leberzirrhosen, Ösophagusvarizen,
Gelbsucht und Gehirnerweichung herumschlagen, mithin also
den Folgen unkontrollierten Saufgenusses oder, das kommt auf
die Betrachtungsweise an, des Alkoholismus als echter
Folgekrankheit unerfüllter Leidenschaften.«
    Vermutlich war ich nicht der Einzige, der überlegte, ob
Händels Ausführungen nur dem Zweck gedient haben sollten,
uns vor den Gefahren der Trunksucht zu warnen. Doch er war
noch nicht fertig.
    »Ich gebe zu«, Händel strich sich in gespielter Betrübtheit
über den unübersehbaren Bauch, »dass es schwer ist, sich dem
Lustprinzip zu verweigern, man will ja auch ein wenig Spaß
haben, nicht wahr… Aber übertreiben Sie es nicht, meine
Damen und Herren! Übertreiben Sie es nicht, und schärfen Sie
Ihren Verstand. Seien Sie wachsam! Sonst wissen Sie
irgendwann in Ihrem Leben nämlich plötzlich nicht mehr, wo
Ihnen der Kopf steht.«
    ICH HABE NOCH NIE BEFÜRCHTET, Dianne könne etwas
zustoßen. Früher, als wir noch auf Bäume kletterten, kam sie
ohne Schrammen und Kratzer wieder herunter. Wenn sie über
Waldwege oder auf der asphaltierten Straße rannte und dabei
stürzte, schlug sie sich weder die Knie auf noch zerriss sie sich
die Haut ihrer Hände. Ich war der Überzeugung, dass sie sogar
barfuß über Scherben laufen konnte, ohne sich zu schneiden.
Kindern ist Sterblichkeit, im Gegensatz zu Verletzungen,
unvorstellbar; für Dianne hatte beides keine Bedeutung. Die
schreckliche Wunde, die sie sich bei der Schlacht am Großen
Auge zuzog, war etwas, das an normalen Maßstäben nicht
gemessen werden konnte. Dianne erkaufte damit nicht nur
ihren, sondern auch meinen Seelenfrieden; das Blut, das sie am
Fluss vergoss, war ein den Göttern wie den Kleinen Leuten
gleichermaßen dargebrachtes Opfer.
    Sie hat sich Glass gegenüber am Telefon nicht darüber
ausgelassen, warum es sie um diese Uhrzeit ins Krankenhaus
verschlagen hat. Der Mann, der in der menschenleeren
Aufnahme des Hospitals die Nachtwache angetreten hat, weiß
nur wenig mehr. Wie in einem Schützengraben hockt er in
seinem verglasten Kabuff, von unten beleuchtet aus einer
Lichtquelle, die genauso unsichtbar für mich bleibt wie seine
Hände. Sein Kopf, auf dem sich bis auf ein paar dünne
schwarze Strähnen kaum noch Haare halten, gleicht einem
Totenschädel mit tiefen, dunklen Augenhöhlen.
    Glass rauscht auf ihn zu wie ein Segelschiff unter vollem
Wind, Michael und mich im Kielwasser.
»Junge von Hund angefallen worden«, teilt der Mann ihr
knapp mit. Seine Stimme ist unsäglich hoch und gepresst, sie
klingt, als habe er Helium eingeatmet. Ich muss unwillkürlich
an himmelwärts ausreißende bunte Luftballons und ihnen
hinterherheulende Kinder denken.
»Was für ein Junge?«. fragt Glass.
»Nachtschwester kann Ihnen mehr sagen.«
Fast unmerklich reckt der Mann den Hals, die Augen in den
großen Totenkopfhöhlen klettern an Glass hinauf, dann zieht er
den Kopf wieder ein. Er muss irgendwann beschlossen haben,
seine hohe Stimme so selten wie möglich hören zu lassen.
Anders kann ich mir nicht erklären, dass er seine Sätze so
schlagzeilenartig abfasst und die Hälfte der Wörter unterschlagt.
Vielleicht arbeitet er auch wegen dieser Stimme ausschließlich
nachts. Ich sehe, wie sein Arm sich bewegt. Er drückt einen für
uns unsichtbaren Knopf, und im Korridor ertönt ein leises
Summen. Dann fällt sein neugieriger Blick auf mich und
Michael. Ich wende mich ab.
Hier wirkt alles heruntergekommen. Es gibt einen verbeulten
Getränkeautomaten, ein paar orangefarbene Hartschalensitze,
einen niedrigen Tisch, auf dem ein paar zerfledderte, durch
Hunderte von Händen gegangene Magazine liegen. Der
Eingangsbereich und die abzweigenden Korridore haben ihre
besten Zeiten längst gesehen, an einigen Stellen löst sich der
Putz von den hellgrün getünchten Wänden, so dass sie aussehen
wie von Krebs oder von Lepra befallen. Der Linoleumboden ist
blank gebohnert, aber voller Kerben und Schrammen. Von
einem unglücklich in der Ecke geparkten, nur halb
zusammengeklappten Rollstuhl blättert der elfenbeinfarbene
Lack, und über dem Ganzen liegt der Geruch von
Desinfektionsmitteln und von verwässertem, bleichem Tee. Die

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