Andreas Steinhofel
verloren hat, der uns über die ersten
Jahre anhaftete, auch wenn wir inzwischen von den Kleinen
Leuten geduldet, von einigen sogar akzeptiert werden. In einer
so kleinen Stadt kann man sich nicht verstecken. Nur
Geheimnisse verbreiten sich hier noch schneller als
Neuigkeiten. Dank des Totenschädels werden morgen alle
wissen, dass wieder eines der Hexenkinder am Werk gewesen
ist.
IM SOMMER DES JAHRES vor der Schlacht am Großen
Auge machte Dianne sich auf ihre eigene Art mit Visibles
Garten vertraut. An manchen Tagen sah ich sie dort auf dem
Bauch in der Sonne liegen, das Gesicht im hohen, vom Wind
bewegten Gras, bewegungslos, die Arme zu beiden Seiten von
sich gestreckt. Sie lag da wie gestorben, oder als versuche sie
die Welt zu umarmen. Manchmal klammerten sich schillernde
Käfer wie eingeflochtene Perlen in ihr schwarzes Haar, das
damals noch so lang war, dass es ihr weit über den Rücken fiel.
Dann wieder ließen sich Schmetterlinge auf den von der Sonne
gebräunten Handrücken nieder, wo sie die bunten Flügel sacht
auf- und wieder zuklappten, wie um dem schlafenden Mädchen
kühlende Luft zuzufächeln.
Zu allem, was um sie herum kreuchte und fleuchte, hatte
Dianne ein Verhältnis, das mir unheimlich war. Einmal konnte
ich beobachten, wie auf ihrer ausgestreckten Hand ein Vogel
mit zerzausten braunen Federn landete, der ruhig und aus
dunklen Augen den gleichgültigen Blick meiner Schwester
erwiderte. Wenn Dianne Blumen pflückte, schienen deren
Blüten sich ihr entgegenzustrecken und der Garten begann zu
wispern; in der Stadt strichen ihr streunende, ausgehungerte
Katzen, die ansonsten um jeden Menschen einen Bogen
machten, schnurrend um die Beine, und Hunde bettelten
winselnd um ihre Aufmerksamkeit. Dianne selbst schien von
diesem Phänomen weder überrascht noch widmete sie ihm
größere Aufmerksamkeit. Sie behandelte die Tiere mit
Gleichgültigkeit, manchmal sogar mit offener Grausamkeit,
indem sie Katzen und Hunde mit groben Tritten vertrieb oder
mit der dahingebrüllten Warnung, sie werde ihnen
Blechbüchsen an die Schwänze binden, wenn sie ihr nicht ihre
Ruhe ließen.
Als ich Glass von meinen Beobachtungen erzählte, konnte ich
sehen, wie ihre Pupillen sich verengten. Offensichtlich gefiel ihr
nicht, was ich sagte, doch ich bezog ihr Missfallen zunächst auf
mich, nicht auf Dianne. Ich glaubte, dass sie mich für eine Petze
halte oder für einen Lügner und dass sie befürchte, ich würde
diese Geschichte in der Schule ausposaunen, was unserer
zweifelhaften Popularität nicht gerade zuträglich wäre. Dann
dachte ich, sie hätte Angst davor, Dianne könne eines schönen
Tages mit einem Haustier anrücken, was Glass kategorisch
ablehnte – sie hatte Angst vor Ungeziefer. Doch in den
folgenden Tagen sah ich sie Dianne aufmerksam beobachten,
und wenn meine Schwester halb wach oder schlafend im Garten
lag, umschwirrt von Insekten oder lärmenden Vögeln, wurde sie
von Glass sofort unsanft geweckt und zu zeitaufwendigen
Tätigkeiten im Haushalt angehalten.
»Wenn du nicht willst, dass irgendwelche Köter an dir
hochspringen«, erklärte sie Dianne einmal ruppig, »dann wasch
dich anständig! Die Viecher werden nur von deinem Gestank
angezogen.«
Dianne zeigte sich von solchen Äußerungen unberührt. Sie
erledigte, was auch immer ihr von Glass aufgetragen wurde –
putzte die Fenster, schrubbte die Böden oder wusch Berge von
Geschirr ab, so dass ich sie mir bald unwillkürlich in gläsernen
Schuhen vorzustellen begann, weil sie mir vorkam wie
Aschenputtel. Ansonsten aber stellte sie ihre Ohren auf
Durchzug, und so gingen weitere Wochen ins Land, ohne dass
sich an dem engen Verhältnis zwischen ihr und der Natur etwas
änderte.
»Wie machst du das, dass die Tiere zu dir kommen?«, fragte
ich sie.
»Ich mache gar nichts.«
»Aber warum kommen sie dann?«
»Um zu betteln. Und manchmal erzählen sie Geschichten.«
»Was für Geschichten?«
»Vom Sommer und von der Nacht.«
Eines Abends war Dianne verschwunden. Glass und ich
vermissten sie nicht sofort; erst als sie nicht zum Abendessen
aufgetaucht war und es draußen längst dunkel geworden war,
liefen wir aufgeregt durch den Garten und den angrenzenden
Wald und riefen ihren Namen. Glass hatte eine Taschenlampe
mitgenommen. Der starke Lichtkegel vibrierte, selbst wenn sie
stehen blieb und ihn suchend umherwandern ließ; nur daran
konnte ich erkennen, dass sie zitterte.
Dianne machte nicht
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