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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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griechische
Schule der Stoiker war ein aufrechtes Häuflein Tapferer, die die
Existenz Gottes in den mannigfaltigen Erscheinungsformen der
Natur und nicht an irgendwelchen Kreuzen festmachten. Die
Stoiker erkannten in den Leidenschaften den größten Feind der
Vernunft. Einige unter Ihnen dürften das schon an sich selbst
erfahren haben: Die Lust feuert ihre Nebelgranaten ab und
verschleiert so den ungetrübten Blick auf das, was hinter den
Dingen liegt. Das aufkommende Christentum sah nun in der
Stoa eine mächtige Konkurrenz und versuchte sich ihrer zu
entledigen. Man machte sich – Verdrängung durch Assimilation
– die Philosophie der Lustfeindlichkeit zu Eigen und versuchte,
den Menschen die Leidenschaften auszutreiben. Das
Christentum tat dies notfalls mit Feuer und Schwert, immer aber
mit leidenschaftlichem Eifer – sehen Sie, wie absurd das ist? «
    »Letztlich standen beide Wertesysteme lange nebeneinander.
So gelang es der Stoa, sich bis ins späte Mittelalter hinein zu
halten und schließlich in der Aufklärung aufzugehen. Und
schließlich prallten ihre Prinzipien in einem der größten und
folgenreichsten Frontalzusammenstöße der Geistesgeschichte
mit der Romantik zusammen, nicht wahr, und da wären wir
dann.«
    Angesichts etwa eines Dutzends heruntergeklappter
Kinnladen konnte ich mir kaum vorstellen, dass irgendwer noch
wusste, wo wir waren oder wie wir dorthin gekommen waren,
doch jetzt ging Händel vom Allgemeinen zum Besonderen über.
    »Ein Beispiel zur vielgestalten Natur der Leidenschaften. Sie
alle kennen unser kleines städtisches Krankenhaus, dieses
lavarote Backsteinkonstrukt, dessen Hässlichkeit einen
anspringt wie ein tollwütiger Köter und dessen Fassade man
längst einer Renovierung hätte unterziehen müssen, fürchterlich
das, aber sei’s drum…«
    Händel hatte Recht, das Krankenhaus war tatsächlich hässlich.
Es ähnelte in keinster Weise der prächtigen entfernten Klinik, in
der vor einem guten Jahrzehnt der Sitz meiner Löffelchen von
Dr. Eisbert auf Stromlinienform gebracht worden war.
    »Die wenigsten unter Ihnen«, fuhr Händel fort, »werden
allerdings wissen, dass dieses Hospital auf den Grundmauern
einer ehemals hier ansässigen Brauerei errichtet wurde, die in
den späten zwanziger Jahren einem nächtlichen Großbrand zum
Opfer fiel. Solche Dinge passieren, und in der Regel kann man
sie einer nüchternen Betrachtungsweise unterziehen. Aber ging
man, meine Damen und Herren, ging man seinerzeit von einer
natürlichen Ursache des Brandes aus? Nein, Brandstiftung
musste es gewesen sein! Und sprach man von Brandstiftung, der
vielleicht nur ein schnöder Versicherungsbetrug zu Grunde lag?
Selbstverständlich nicht, weil zu unromantisch, und da haben
wir schon den leidenschaftlichen Salat, wenn Sie so wollen!
Lassen wir mal das Personal der Geschichte außer Acht – ein
Brauereibesitzer am Rande des Bankrotts nebst Familie mit
hübscher, viel umworbener Tochter, unterbezahlte Arbeiter,
unzufriedene Kreditgeber, was weiß ich -, so kursierten
plötzlich die wildesten Spekulationen. Um unerwiderte Liebe
ging es angeblich, um Eifersucht, ja sogar von Blutrache war
die Rede! Und als wäre das nicht genug…«
»Das Kreuz«, murmelte es von irgendwo.
    Händel macht eine kleine, ironische Verbeugung. »Richtig,
das Kreuz! Obwohl seinerzeit sowohl die Brauerei als auch das
angrenzende Wohnhaus innerhalb kürzester Zeit ein Raub der
Flammen wurden, konnten der Brauereibesitzer und seine
Familie dem Inferno unbeschadet entkommen. Und es geht die
Legende, tags darauf sei bei den Aufräumarbeiten zwischen
glühendem Schutt, dampfender Asche und beißendem Ruß ein
Kreuz gefunden worden – ein goldenes Kruzifix, das von
Rechts wegen in der gewaltigen Hitze hätte schmelzen, ja
verdampfen müssen! Ein Kreuz noch dazu, wie es der gottlose
Haushalt des Brauereibesitzers nie besessen hatte, mithin also:
ein Wunder!«
    »Wo ist das Kreuz abgeblieben?«, fragte jemand.
»Verschwunden! Wenn es denn je existiert hat. In den Köpfen
der Menschen ist es natürlich geblieben, man mag das Glaube
oder Aberglaube nennen, für mich läuft es auf dasselbe hinaus.
Kreuz hin oder her: Der Brauereibesitzer und seine Familie
verlassen die Stadt, das Gerede ist ihnen unerträglich geworden.
Ihre Spuren verlieren sich in den Wirren des Krieges – auch so
ein unrühmlicher, verstandesloser Schwachsinn, der Krieg,
jedenfalls: Es wird

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