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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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nicht, wie ich es anfangen
sollte. Der gefürchtete Dachboden war tabu, also blieb mir nur
der Weg über den Baum, den auch Dianne genommen hatte.
Aber es war dunkel, ich befürchtete abzustürzen. Ein Unfall
hätte Glass mit Sicherheit zu irgendeiner Reaktion bewegen
können – zumindest hätte er heftige Reue ausgelöst, und wenn
ich tot war und Dianne gleich dazu, geschähe ihr das nur recht.
Andererseits: Sollte ich mich wirklich mit Dianne solidarisieren,
die nicht nur ebenso dickköpfig wie Glass auf einem mir
unbekannten Recht beharrte, sondern die auch ebenso
eigensüchtig wie Glass mich und meine Verwirrtheit einfach
ignorierte?
Vermutlich war es das Beste, einfach abzuwarten. Ich setzte
mich unter einen der Bäume, schloss die Augen und drückte
meine Hände flach aufs Gras. Ich presste den Rücken fest gegen
die Rinde des Baumstamms, in mir eine schweigende,
abwartende, schwarze Leere. Ich lauschte. Ich wollte hören, was
Dianne hörte, fühlen, was sie fühlte, doch alles, was ich hörte,
war der leise, sirrende Flügelschlag der Fledermäuse, das
raunende Flüstern, mit dem der Wind in die Zweige der Bäume
fuhr, und alles, was ich fühlte, war das empörte Schlagen
meines Herzens. Irgendwann schlief ich ein.
Ein Zerren an meiner Hand weckte mich. Ich schlug die
Augen auf. Es war immer noch dunkel, und einen irritierenden
Moment lang glaubte ich zu träumen, weil ich nicht in meinem
Bett erwachte, sondern im Garten.
»Du bist voll Spinnweben«, hörte ich Dianne sagen. »Du
siehst ganz silbern aus.«
Sie zog mich auf die Beine, die klamm und steif waren und
mich kaum tragen wollten, und führte mich ins Haus, in unser
Zimmer, wo sie sich sofort auszog und in ihr Bett legte.
»Schläfst du bei mir, Phil?«
»Ja.«
Ich zog mich ebenfalls aus, dann krabbelte ich zu ihr. Sie
kuschelte sich an mich. Ihr Körper war Frost. Ich umklammerte
sie, rubbelte ihre Arme und Beine mit meinen Händen warm,
dann den Rücken, den Po, die Brust, den Bauch. Ich gab ihr
überall kleine Küsse, wie Glass es manchmal tat, nachdem sie
uns gebadet hatte, weil sie dem frischen Geruch unserer Haut
nicht widerstehen konnte. Meine Lippen brannten unter Diannes
Kälte, und da war ein Geschmack wie von salziger Milch.
»Dianne?«, flüsterte ich. »Warum hast du das gemacht?«
Sie kuschelte sich nocht enger an mich. Ich wartete. Es
dauerte nur Sekunden, dann hörte ich ihre ruhigen Atemzüge.
Als wenig später die Dämmerung mit grauen Händen gegen die
Fenster drückte und Diannes Atmen vom ersten, noch
verhaltenen Zwitschern der erwachenden Vögel überstimmt
wurde, schlief ich ein.
Glass ließ uns ausschlafen. Als wir um die Mittagszeit
aufstanden und in die Küche taperten, war sie sofort zur Stelle.
Sie kochte uns heiße Schokolade, was sie sonst nie tat, bereitete
Brote zu, die sie in kleine, mundgerechte Stückchen schnitt –
auch das ungewohnt -, und unterhielt uns mit Geplapper, das
ebenso fröhlich war wie sinnlos. Dianne trank ihre Schokolade
und grinste mich über den Rand ihrer Bechertasse hinweg
triumphierend an.
Und das war das. Nach diesem Vorfall sah ich Dianne nie
wieder von Tieren umgeben, weder von Insekten noch von
Hunden oder Katzen. Was auch immer in dieser Nacht zwischen
ihr und Glass geschehen war, schien die Macht meiner
Schwester über die belebte Natur gebrochen zu haben, und
Dianne erweckte nicht den Eindruck, als ob ihr das etwas
ausmachte oder als ob sie etwas vermisste. Doch als Kat mir
einige Jahre darauf flüsternd berichtete, sie habe gesehen, wie
Dianne sich mit einer Eidechse unterhielt, und dies als Grund
dafür vorschob, sich von meiner Schwester zurückzuziehen,
zuckte ich zusammen. Dianne hatte weder verlernt noch
vergessen. Sie hatte nur versteckt.
    »Du HAST DAS DAMALS nicht verstanden, oder?«, sagt
Glass. Sie hat sich eine Zigarette angezündet, an der sie zu
hastig und zu häufig zieht.
    »Wie hätte ich es denn verstehen können?«, frage ich zurück.
»Ich war ein Kind. Wir waren Kinder! Ich verstehe es, offen
gestanden, bis heute nicht.«
    Der Wagen geistert mit leisem Motorengeräusch durch die
Nacht. Es ist nicht weit vom Krankenhaus bis zur Polizeistation,
doch zweimal bremst eine rote Ampel unsere Fahrt, ich frage
mich, warum sie nachts geschaltet ist, außer uns ist niemand
unterwegs. Ich sehe, wie Michael einen kurzen Blick auf Glass
wirft, bevor er mich im Rückspiegel mustert. Ich zucke die
Achseln.
    »Dabei gibt

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