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Androidenträume

Titel: Androidenträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Scalzi
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finanzieller Verzweiflung an den Tag legten. Sie gab vor, Dwellin mit großen Augen zu lauschen, doch dann ließ sie ihn wie einen Affen an der Leine herumtanzen. Sie legte einen Fonds an, mit dem der Tempel gebaut werden sollte, aber sie machte es so, dass Dwellin keinen Zugriff auf das Geld hatte. Stattdessen bot Hayter-Ross »Opfergaben« dar, die auf prophetischen Gedichten basierten, in denen Dwellin seine Begegnungen mit N’thul verarbeitete. Jedoch nahm sie selbst Einfluss auf diese Gedichte, indem sie gelegentlich Hinweise fallen ließ, was sie gerne darin lesen würde. Einmal erwähnte sie Dwellin gegenüber auf recht durchtriebene Weise, wie sehr sie Schafe mochte. Bei Dwellins nächster »Session« mit N’thul trat erstmals das »Höhere Lamm« in Erscheinung – die Verschmelzung der sanften, pastoralen Eigenschaften von Schafen mit dem groben, aggressiven Wesen des Menschen.
    Sechs Jahre lang produzierte Dwellin Tausende von poetischen Gedichten, um Hayter-Ross fieberhaft die verhältnismäßig armseligen Zuschüsse zu entlocken, die sie ihm zuteil werden ließ, bis er schließlich vor Erschöpfung tot umfiel, obwohl er gerade erst 38 geworden war. Hayter-Ross, die das stattliche Alter von 104 erreichen sollte, ließ seine Asche in den soeben fertig gestellten (und wirklich sehr hübsch geratenen) Tempel des Höheren Lamms einmauern, und zwar im Sockel einer Statue, die N’thul darstellte. Dann sammelte sie seine prophetischen Gedichte und veröffentlichte sie zusammen mit einem eigenen Buch – dem ersten unter ihrem richtigen Namen – über Dwellins Versuche, sie auszutricksen, und die »Religion«, die daraus entstanden war. Beide Bücher wurden zu Bestsellern.
    Ironischerweise waren diese Gedichte das Beste, was Dwellin jemals geschrieben hatte, und sie verschafften ihm posthum den Ruf eines beachtenswerten mystischen Lyrikers. Seine Biographen führten dies auf die halluzinogenen Wirkungen von Fieber und alkoholbedingter Mangelernährung zurück, aber andere glaubten auch, dass Dwellin, obwohl er ein Betrüger gewesen war, der sich von seiner älteren, sadistischen Muse hatte hereinlegen lassen, vielleicht doch eine spirituelle Quelle angezapft hatte, eher zufällig und trotz seiner geldgierigen Art.
    Diese Seelen sollten die Ersten sein, die sich als Mitglieder der neuen Kirche des Höheren Lamms offenbarten und sich daraufhin »Empathisten« oder »N’thulianer« nannten. Ihnen schloss sich schon bald eine andere Gruppe von Individuen an, denen die Idee gefiel, alles zu tun, damit die prophetischen Gedichte Dwellins wahr wurden, aber nicht weil sie göttlich inspiriert waren, sondern weil sie es nicht waren. Wenn eine Gruppe aktiv daran arbeitete, völlig fiktive Prophezeiungen wahr werden zu lassen, und es schaffte, eine solche Show durchzuziehen, wurde die ganze Idee göttlich inspirierter Prophezeiungen in Frage gestellt, womit die Rationalität einen Sieg auf ganzer Linie errungen hätte. Diese Gruppierung wurde als »Ironisten« oder »Hayter-Rossianer« bekannt.
    Trotz ihrer diametral entgegengesetzten Ansichten über ihre sogenannte Religion arbeiteten die Empathisten und die Ironisten reibungslos zusammen und schmiedeten gemeinsam an einer praktischen Doktrin, die beiden Fraktionen ihrer Gemeinde zusagte und es ihnen ermöglichte, ihre Differenzen in ein kohärentes Ganzes zu integrieren, das die erdige, rustikale Art der Empathisten mit dem technisch orientierten Pragmatismus der Ironisten kombinierte. Nirgendwo waren diese Integrationsbemühungen vollkommener ausgeprägt als im Viehwirtschaftsprojekt der Kirche in der Brisbane-Kolonie. Dort hatte die Organisation zahlreiche Schafrassen gezüchtet, nicht nur durch den Einsatz gezielter Kreuzungsmethoden, sondern auch durch die umsichtige Anwendung genetischer Manipulationen. Schließlich stand nirgendwo geschrieben, dass sich das Höhere Lamm durch natürliche Evolution entwickeln musste.
    Andrea Hayter-Ross war genauso überrascht wie jeder andere, dass eine richtige Religion aus den armseligen Betrugsversuchen entstanden war, in denen sich ein Schundschreiber ergangen hatte, und noch viel mehr überraschte es sie, dass sie die Gesellschaft der recht klarsichtigen Menschen genoss, die sich zu ihrer Religion bekannten. Als Hayter-Ross ohne rechtmäßige Erben starb, teilte sie ihr Vermögen unter verschiedenen wohltätigen Organisationen auf, doch die Kontrolle über das Firmenimperium der Familie Hayter-Ross vermachte sie der Kirche

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