Androidenträume
dort eigentlich nicht aufhalten sollte, in den Korridor. Diese bedauernswerten Zeitgenossen wurden dann »vermilchtütet«, wie die Angelegenheit seit den Zeiten des Gründers unklar, aber recht anschaulich genannt wurde.
Archie und Sam wurden ein letztes Mal gescannt, dann war ein leises Klicken zu hören, als sich die Tür am Ende des Korridors entriegelte. Die beiden gingen weiter und traten endlich in das Versammlungshaus der Kirche des Höheren Lamms.
Die Kirche des Höheren Lamms war in der Geschichte der größeren sowie der kleineren Religion insofern bemerkenswert, als sie die einzige Religion war, die frei heraus zugab, dass ihre Gründung purer Schwindel gewesen war. Der Gründer war M. Robin Dwellin, ein Science-Fiction-Autor des frühen 21. Jahrhunderts, dessen Talent zugegebenermaßen bescheiden und dessen Charakter karrieresüchtig war. Er hatte einen Roman veröffentlicht, der bei Kritikern und Lesern auf völliges Desinteresse stieß, und war ohne jede Aussicht, einen zweiten herausbringen zu können, als er schließlich in der Erwachsenenbildung einen Kurzgeschichten-Workshop am Mr. San Antonio Community College in Walnut, Kalifornien, leitete.
Dort war es geschehen, während er Geschichten von Hausfrauen beurteilte, in denen übergewichtige Frauen mittleren Alters Highschool-Sportler verführten, und solchen von Computertechnikern, in denen wilde, hedonistische Weltraumorgien in Nullschwerkraft beschrieben wurden, dass Dwellin einer Dame namens Andrea Hayter-Ross begegnete, mit 78 Jahren die älteste Teilnehmerin seines Kurses – und zufällig die Alleinerbin des gemeinsamen Vermögens der Familien Hayter und Ross, die mit Bauxit-Minen und Verkaufsautomaten reich geworden waren, wodurch Andrea auf Platz 16 der reichsten Menschen des Planeten Erde gelangt war.
Gleichzeitig hatte sich Andrea als professionelle Autorin hervorgetan (sechs Bücher, die unter Pseudonym veröffentlicht wurden), und sie nahm nur an dem Kurs teil, weil sie für einen Artikel recherchierte. Sie war eine interessante Frau, die die Fassade des dilettantischen Mystizismus einer gelangweilten reichen Dame aufgesetzt hatte, um einer allzu gründlichen Musterung zu entgehen. Sie gehörte zu den Personen, die gerne zu Seancen und Kristall-Tunings gingen, weil sie die Atmosphäre liebten und dabei die Anwesenden studieren konnten, die aber gar nicht erwarteten, wirklich mit verstorbenen Großtanten zu reden oder in Resonanz mit den subätherischen Schwingungen des Universums zu treten. Dwellin war aufmerksam genug, um den ersten Punkt zu bemerken, aber nicht, um auch den zweiten zu durchschauen. Als er also den Plan ausheckte, der Alten etwas Geld aus den Rippen zu leiern, war ihm nicht bewusst, wie weit Hayter-Ross ihm bei diesem Spiel voraus war.
Er bediente sich großzügig aus verschiedenen New-Age- und Science-Fiction-Texten und fügte noch eine Prise seiner eigenen dürftigen Phantasie hinzu, und auf diese Weise schuf er eine neue »Religion«, in der er der Prophet und der Avatar war und die den baldigen Sprung der Menschheit auf eine höhere Entwicklungsstufe verkündete. Hayter-Ross’ Werke, behauptete er, erreichten ein Maß von Einfühlsamkeit, wie er sie selten zuvor gesehen hatte. Er war bereit, ihr die Mysterien der vierzehn göttlichen Dimensionen zu eröffnen, wie sie ihm von N’thul offenbart worden waren, einem Geistwesen von unendlicher Güte, das lediglich die Errichtung eines Tempels verlangte. Dieser Tempel sollte an einer bestimmten heiligen Stelle errichtet werden, die zufällig mit einem kleinen Grundstück im Gewerbegebiet von Victorville identisch war, das Dwellin einige Jahre zuvor im Rahmen einer misslungenen Immobilienspekulation erworben hatte. Dort konnte das Geistwesen seine Energien besser konzentrieren und der Menschheit helfen, das nächste Evolutionsstadium zu erreichen. Dwellins Plan sah vor, sich die Baukosten von Hayter-Ross vorschießen zu lassen, um sie sich in die eigene Tasche zu stecken, worauf er mit verschiedenen plausiblen Ausreden erklären wollte, warum sich die Errichtung des Tempels immer wieder verzögerte. Er dachte sich, das Spiel so lange durchzuziehen, bis Hayter-Ross das Zeitliche gesegnet hatte, was nach menschlichem Ermessen in nicht allzu ferner Zukunft geschehen musste.
Hayter-Ross erkannte schnell, ob eine Idee etwas taugte, und sie neigte auch zu jener beiläufigen Grausamkeit, die unglaublich reiche Leute häufig entwickelten, wenn andere erste Anzeichen von
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