Androidenträume
des Höheren Lamms. Das führte zu großer Bestürzung im Aufsichtsrat, bis die Diakone der Kirche sich als knallharte Verfechter der Gewinnoptimierung erwiesen (die Kirchenmitglieder, die für die wirtschaftlichen Aspekte des Ganzen verantwortlich waren, gehörten fast ausnahmslos der Gruppierung der Ironisten an). Nach zwanzig Jahren hatte fast jeder, der nicht im Aufsichtsrat von Hayter-Ross saß, vergessen, dass eine angeblich religiöse Institution den Konzern führte.
Was für die Mitglieder der Kirche des Höheren Lamms völlig in Ordnung war. Die Gemeinschaft zog es vor, sich möglichst wenig in der Öffentlichkeit bemerkbar zu machen, und blieb verhältnismäßig klein, sowohl durch die selektiven Neigungen ihrer Anhänger als auch durch die Tatsache, dass nur ganz bestimmte Persönlichkeiten bereit waren, einer Kirche beizutreten, die ihre Existenz der Geldgier eines drittklassigen Science-Fiction-Schriftstellers verdankte. Die Kirche rekrutierte ihre Mitglieder vorwiegend aus technisch-wissenschaftlichen Berufen sowie Kreisen, die häufig auf Mittelaltermärkten anzutreffen waren (wobei es eine bemerkenswert große Überschneidung beider Gruppen gab). Hinzu kamen viele, die bereits in einer Firma des Hayter-Ross-Konzerns arbeiteten. Archie beispielsweise war zu einem Zeitpunkt beigetreten, als er bei LegaCen beschäftigt gewesen war, einem der ältesten Geschäftszweige des Firmenimperiums, der sich auf die Programmierung umfangreicher, maßgeschneiderter Informationsstrukturen für große Konzerne oder staatliche Behörden spezialisiert hatte.
Dort war er von Sam angesprochen worden. Sam war Diakon der Kirche und Archies direkter Vorgesetzter bei LegaCen gewesen. Anfangs ging es ausschließlich um die Kirche, der sexuelle Teil ihrer Beziehung entfaltete sich erst, nachdem Archie bei LegaCen aufgehört hatte. Die Kirche hatte keine Gesetze erlassen, die es Diakonen verbot, mit Gemeindemitgliedern zu schlafen, aber LegaCen mochte es gar nicht, wenn Chefs mit ihren Untergebenen sexuell verkehrten. Das war einer der Unterschiede zwischen der geistlichen und der geschäftlichen Welt.
In alltäglichen Situationen dachte Archie nicht viel über seine Religionszugehörigkeit nach. Eine Besonderheit der Kirche des Höheren Lamms war, dass sie keine Aussagen zu den großen religiösen Fragen zu Gott, dem Leben nach dem Tod, der Sünde und all dem anderen erbaulichen Quatsch machte. Die Ziele der Kirche auf dem Weg zur Erfüllung von Dwellins Prophezeiungen waren fast ausschließlich im materiellen Universum verwurzelt. Selbst die Empathisten gingen niemals so weit zu behaupten, Dwellin hätte tatsächlich mit spirituellen Wesen kommuniziert. Für sie war N’thul eher mit dem Weihnachtsmann als mit Jesus Christus vergleichbar.
Dieser Agnostizismus in eschatologischen Angelegenheiten bedeutete, dass die Mitglieder der Kirche des Höheren Lamms nicht sehr viel Zeit auf Gebete oder Gottesdienste oder das Singen von geistlichen Liedern verwendeten (sofern sie nicht zufällig gleichzeitig einer traditionelleren Kirche angehörten, was gar nicht so selten war). Was religiöse Erfahrungen betraf, sah man die Sache recht entspannt. Das verriet bereits die Architektur des kirchlichen Versammlungshauses, das eher an einen gemütlichen Club als an eine Stätte spiritueller Verehrung erinnerte. In einer Ecke hing immer noch eine Discokugel, die zum Dekor des montäglichen Karaoke-Abends der Kirche gehörte.
Doch dadurch gewann die Entfaltung der Prophezeiungen nur umso mehr an Nachdruck. Was Archie im Pentagon-Keller auf dem Computermonitor gesehen hatte, war in den Schriften des bedauernswerten, fiebernden Dwellin vorhergesagt worden:
Die Mächtigen werden ihre Heere in Marsch setzen, um nach dem Lamm zu suchen.
Bis in die Tiefen der Moleküle werden sie danach suchen; doch obgleich sie suchen,
Wird einer Zeuge ihres Tuns werden und alles tun, um das Lamm zu schützen,
Auf dass ihm kein Schaden widerfährt.
Es war nicht gerade eine von Dwellins besten Prophezeiungen, aber zu jener Zeit lebte er von Hustensaft und Vomex und hatte noch weitere 126 Prophezeiungen vor sich, bevor Hayter-Ross ihm einen neuen Scheck unterschreiben würde. Also hätte er sich gut herausreden können. Aber nun hatte sie sich als wahr erwiesen, was den Mangel an stilistischer Eleganz mehr als ausglich.
Ob Dwellin dieses Ereignis vorhergesagt hatte, weil er eine spirituelle Quelle angezapft hatte oder weil sich die Kirche seit Jahrzehnten
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