Andromeda
Wald hatte einmal gesagt: Die Biologie steht als Wissenschaft insofern einzig da, als sie ihr eigenes Sachgebiet nicht definieren kann. Niemand vermag anzugeben, was Leben ist. Niemand weiß das. Die alten Definitionen – ein Organismus, der Nahrung aufnimmt und Abbaustoffe ausscheidet, der also Stoffwechsel hat, der Vermehrung aufweist und so weiter – sind längst nutzlos geworden. Für alles lassen sich Ausnahmen anführen. Die Planungsgruppe hatte sich schließlich darauf geeinigt, Energieumsetzung als das Merkmal des Lebens anzuerkennen: Jeder lebende Organismus nimmt Energie in irgendwelcher Form auf – in Form von Nahrung oder von Sonnenlicht –, wandelt sie in eine andere Form von Energie um und macht sie sich zunutze. (Die Viren bilden eine Ausnahme von dieser Regel; die beteiligten Wissenschaftler waren jedoch bereit gewesen, die Viren als leblos zu betrachten.) Man hatte damals Leavitt gebeten, auf der nächsten Sitzung diese Definition anzufechten. Er hatte eine ganze Woche darüber nachgedacht und dann drei Dinge zur Besprechung mitgebracht: einen Fetzen schwarzes Tuch, eine Uhr und ein Stück Granit. Er legte sie auf den Konferenztisch und sagte: »Meine Herren, hier haben Sie drei lebende Dinge!« Wer aus dem Team das nicht akzeptiere, möge beweisen, daß diese Gegenstände leblos seien. Er legte das schwarze Tuch in die Sonne – es erwärmte sich. Das sei, so erklärte er, ein Beispiel von Energieumwandlung: Strahlungsenergie war in Wärme verwandelt worden.
Man hielt ihm entgegen, daß es sich nur um eine passive Aufnahme von Energie und nicht um eine Umwandlung handle. Es wurde ferner eingewandt, daß die Umwandlung, falls man von einer solchen überhaupt sprechen könne, nicht zweckgerichtet erfolge: Es sei keinerlei Funktion damit verbunden.
»Woher wollen Sie wissen, daß sie nicht zweckgerichtet erfolgt?« hatte Leavitt zurückgefragt.
Dann war die Uhr vorgenommen worden. Leavitt hatte auf das Zifferblatt gedeutet, das im Dunkeln leuchtete: Hier fand ein Zerfall statt, bei dem Licht erzeugt wurde. Man entgegnete, dies sei lediglich ein Freiwerden von potentieller Energie, die in instabilen Elektronenbahnen gespeichert worden sei. Aber es war doch eine zunehmende Verwirrung entstanden – man spürte, was Leavitt klarmachen wollte.
Endlich hatte Leavitt auf das Stück Granit gewiesen und gesagt: »Das hier ist lebendig. Der Stein lebt, atmet, bewegt sich und spricht. Wir nehmen das alles nur nicht wahr, weil es zu langsam abläuft. Gestein hat eine Lebensspanne von drei Milliarden Jahren. Wir leben sechzig oder siebzig Jahre. Was mit dem Stück Stein geschieht, vermögen wir aus dem gleichen Grund nicht zu erkennen, aus dem wir bei einer Schallplatte keine Melodie mehr hören, wenn sie mit einer Geschwindigkeit von einer Umdrehung pro Jahrhundert abgespielt wird. Der Stein seinerseits nimmt unsere Existenz überhaupt nicht wahr, da unsere Lebensspanne nur einen winzigen Bruchteil der seinen beträgt. Für ihn sind wir wie Blitze im Dunkeln.« Und er hatte seine Uhr hochgehalten.
Das war allen als einsichtig erschienen. Sie hatten ihre Ansicht in einem wichtigen Punkt revidiert: Sie gaben zu, daß man möglicherweise nicht in der Lage sein könne, gewisse Lebensformen zu analysieren. Es sei durchaus möglich, bei einer solchen Analyse nicht die geringsten Fortschritte zu erzielen, ja nicht einmal einen Anfang zu finden. Doch Leavitts Besorgnis reichte noch weiter. Er sah auch das generelle Problem der in einem solchen Zustand der Ungewißheit zu treffenden Maßnahmen. Er erinnerte sich, wie aufmerksam er Talbert Gregsons Planning the Unplanned – »Planung des Ungeplanten« – gelesen hatte. Die komplexen mathematischen Modelle, die der Autor zur Analysierung des Problems erdacht hatte, bereiteten ihm damals viel Kopfzerbrechen. Gregson vertrat folgende Überzeugung:
Alle Entscheidungen, die das Ungewisse betreffen, lassen sich in zwei unterschiedliche Kategorien gliedern: Entscheidungen mit Kontingenz und solche ohne. Die letzten werfen erheblich mehr Schwierigkeiten auf. Die meisten Entscheidungen und nahezu alle Wechselwirkungen zwischen Menschen kann man in ein Kontingenzsystem einordnen. Ein Präsident kann beispielsweise einen Krieg erklären, ein Mann verkauft sein Geschäft, oder er läßt sich von seiner Frau scheiden. Eine solche Aktion ruft eine Gegenaktion hervor; die Anzahl der Reaktionen ist unendlich, aber die Anzahl der wahrscheinlichen Reaktionen ist
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