Andromeda
verschwunden. Zum Anziehen brauchte er doch höchstens dreißig Sekunden.
Er setzte sich noch einmal auf die Bettkante und dachte angestrengt nach. Er konnte sich an nichts erinnern. Zehn Minuten – einfach weg.
Es war ein erschreckender Gedanke. Also war es wieder über ihn gekommen. Und er hatte doch gehofft, es werde nicht mehr vorkommen. Seit Monaten hatte er Ruhe gehabt. Aber jetzt, bei der Aufregung, dem ungeregelten Zeitablauf, der Unterbrechung seiner gewohnten Krankenhausroutine – jetzt ging das wieder los.
Im ersten Augenblick überlegte er, ob er es den anderen sagen sollte. Aber dann schüttelte er den Kopf. Er fühlte sich ganz wohl. Es würde nicht wieder vorkommen. Nein, es ging ihm ganz gut.
Er stand auf. Was wollte er doch? Richtig, mit Stone sprechen. Über irgend etwas Wichtiges und Aufregendes. Worüber nur? Es fiel ihm nicht mehr ein.
Die Idee, die Vorstellung, die Aufregung, alles war verschwunden. Weg, wie aus seinem Gedächtnis ausradiert. Er wußte, daß er es eigentlich Stone sagen sollte, daß er alles zugeben mußte. Aber er wußte auch, was Stone sagen und tun würde, wenn er dahinterkam. Und er wußte auch, was das für seine Zukunft und für den Rest seines Lebens bedeutete, wenn das Unternehmen Wildfire erst einmal abgeschlossen war. Alles würde anders werden, wenn es die Leute erfuhren. Nie wieder konnte er sein normales Leben führen. Er mußte seinen Beruf aufgeben, etwas anderes anfangen, sich immer wieder neu anpassen. Er durfte nicht einmal mehr Auto fahren.
Nein, dachte er. Ich werde nichts sagen. Und es wird schon nicht wieder vorkommen. Ich darf nur nicht in blinkendes Licht schauen.
Jeremy Stone war müde. Aber er wußte, daß er jetzt ohnehin nicht einschlafen konnte. Er ging in den Korridoren des Labors auf und ab und dachte über die Vögel in Piedmont nach. Noch einmal ging er in Gedanken jede Einzelheit durch: wie sie die Vögel erblickt, sie mit Chlorazin vergast hatten, wie die Vögel gestorben waren. Er stellte sich jeden einzelnen Schritt vor, immer wieder. Er hatte etwas übersehen. Und dieses Gefühl quälte ihn. Die ganze Zeit über, die er in Piedmont selbst verbracht hatte, war dieses quälende Gefühl vorhanden gewesen. Dann hatte er nicht mehr daran gedacht. Bei der Mittagsbesprechung aber, als Hall über die Patienten berichtete, war es wieder dagewesen.
Hall hatte irgend etwas gesagt, irgend eine Tatsache erwähnt, die entfernt mit den Vögeln zu tun hatte. Aber was war das gewesen? Welcher Gedanke, welcher Wortlaut hatte diese Gedankenverbindung ausgelöst? Stone schüttelte den Kopf. Er kam einfach nicht mehr dahinter. Die Hinweise, die Verbindung, die Schlüssel – alles war vorhanden, aber er konnte es nicht aus seinem Unterbewußtsein graben.
Er legte beide Hände an seinen Kopf, preßte ihn zusammen und verfluchte seinen Verstand, weil der sich so stur zeigte. Stone war, wie so viele intelligente Männer, seinem eigenen Verstand gegenüber äußerst mißtrauisch. Er betrachtete ihn als ein hochqualifiziertes, aber auch sehr launisches Präzisionsinstrument. Nie überraschte es ihn, wenn dieses Gerät ihn einmal im Stich ließ. Aber gleichzeitig fürchtete er diese Augenblicke und haßte sie. In seinen düstersten Stunden zweifelte Stone die Nützlichkeit allen Denkens und aller Intelligenz an. Es gab sogar Zeiten, in denen er die Versuchsratten beneidete, mit denen er arbeitete. Ihre Hirne waren so einfach gebaut. Ganz gewiß fehlte ihnen die Intelligenz, die zur Selbstvernichtung nötig ist; diese Erfindung war nur dem Menschen zu eigen. Oft hatte er deshalb behauptet, die menschliche Intelligenz bereite mehr Schwierigkeiten, als sie wert sei. Denn sie wirke mehr zerstörerisch als schöpferisch, mehr verwirrend als erleuchtend, mehr entmutigend als befriedigend, sei mehr böse als auf Menschenliebe eingestellt.
Manchmal sah er den Menschen mit seinem riesigen Gehirn als ein Gegenstück zu den Dinosauriern an. Jeder Schuljunge weiß, daß diese Schreckensechsen über sich selbst hinausgewachsen, daß sie zu groß und zu schwerfällig geworden waren, um noch lebensfähig zu sein. Ein Viertel des Blutes, das vom Herzen in die Adern gepumpt wird, geht ins Gehirn, das doch nur einen so kleinen Bruchteil des Körpergewichts ausmacht. Wenn das Gehirn noch größer wird, noch besser, dann wird es vielleicht noch mehr verbrauchen – vielleicht so viel, daß es wie eine Infektion über seinen Wirt herfallen und den Körper töten wird, der
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