Andular II (Die Erneuerung des Kreises) (German Edition)
der Splitter erfahren, aber vorerst galt es Avakas herbeizurufen.
Wie eine goldene Kugel tauchte die Morgensonne am östlichen Horizont auf, als der weiße Rabe durch die Wolken zu ihnen hinunter glitt. Renyan steckte die Feder wieder ein und hielt seinen Arm in die Luft, auf dem sich Avakas sogleich niederließ. Nachdem der Vanyanar ihm durch seine Gedanken von ihrem Vorhaben berichtet hatte, stieß der Rabe sich wieder von Renyans Arm ab und
flog in nördlicher Richtung davon.
Nun war es an der Zeit, Narlo von dem bevorstehenden Kurswechsel zu informieren. Nachdem Jindo und Renyan ihn mehr oder weniger von ihren Gründen überzeugt hatten, ging ihr Schiff schließlich wenige Stunden später vor dem nördlichen Inselende Asmadars vor Anker.
Kurz darauf ruderten Renyan, Cale und Jindo in einem kleinen Beiboot zum Inselstrand hinüber, wobei Renyan den Jungen genauestens beobachtete. Cales Anspannung schien mit jedem weiteren Ruderzug zu wachsen. Immer wieder rutschte er nervös hin und her, während seine Augen die schroffen Felswände absuchten.
„Geht es dir gut, Cale?“, fragte Renyan nach einer Weile.
„Es geht schon“, antwortete er und nahm einen tiefen Atemzug. „Mir ist nur so flau im Magen.“
„Das macht die Nervosität“, fügte Jindo hinzu und legte ihm seinen Arm um die Schultern. „Mir geht es genauso.“
Sie waren nicht mehr weit vom Strand entfernt, als Renyan plötzlich Avakas entdeckte. Der Rabe flog einen weiten Bogen über sie hinweg und stieß anschließend einen lauten Schrei aus, worauf zwei weiße Wölfe vor ihnen auf einer Düne auftauchten. Dann erschienen zwei weitere und traten jeweils rechts und links neben die anderen beiden. Als sich das Boot kurz darauf in den Sand des Strandes grub, hatte sich bereits eine Reihe von zwanzig Wölfen auf der Düne versammelt. Einen von ihnen hatte Renyan gleich erkannt. Es war Askart, der Wolf mit der Narbe, Zirons ergebener Untertan und einer der beiden Wölfe, die zuerst auf der Düne aufgetaucht waren. Aufmerksam musterte er die drei Ankömmlinge, bis sein Blick schließlich an dem Jungen haften blieb. Nun schwebte auch Avakas zu ihnen hinunter und setzte sich auf Jindos Schulter. Für einen Moment standen sie den Wölfen schweigend gegenüber. Weder Renyan noch der Vanyanar sagten etwas und auch die Wölfe verharrten regungslos auf der Düne. Cale kam es wie eine Ewigkeit vor, aber dann traten die ersten beiden Wölfe ein Stück auseinander, sodass eine kleine Lücke zwischen ihnen entstand.
„Geh jetzt, mein Junge“, sagte Jindo schließlich mit stockender Stimme und wies ihm den Weg.
Langsam trat Cale den Wölfen entgegen. Angespannt setzte er einen Fuß vor den anderen, bis plötzlich ein weiterer Wolf die Düne betrat und die Lücke zwischen Askart und dem anderen schloss. Cale blieb stehen. Dieser Wolf war deutlich größer als die anderen und auf seiner Stirn saß ein langes, weißes Horn. Cales Knie wurden weich und er befürchtete, dass sie jeden Moment wegklappen würden. Alles um ihn herum schien sich plötzlich zu entfernen und verschwamm zu einem unscharfen Schleier. Er nahm weder den Wind noch das Rauschen der Wellen wahr, alles was er hörte, war sein Herz, das ihm bis zum Hals schlug, so laut und heftig, dass er das Gefühl hatte, es würde jeden Augenblick zerreißen.
Der große Wolf kam nun auf ihn zu. Langsam, seine gelben Augen stets auf ihn gerichtet, schritt er in anmutigen Bewegungen die Düne hinab und ging einmal um den Jungen herum, bis er schließlich wieder vor ihm stand.
„Zardan“, sagte er leise. „Mein Sohn.“ Ziron trat noch näher an Cale heran und streifte mit seinem Kopf zärtlich die Seite des Jungen, ohne ihn dabei mit seinem Horn zu berühren.
Zögernd fuhr Cales rechte Hand nun durch die Mähne des Wolfes, und dabei überkam ihn ein Gefühl, wie er es vor langer, langer Zeit schon einmal gespürt zu haben schien. Es war fremd und doch auf merkwürdige Weise vertraut. Seine Hand glitt über den Kopf des Tieres, dann nahm er Zirons Gesicht in seine Hände und fiel ihm um den Hals.
„Vater!“, rief er und begann zu weinen.
Nun kamen auch die anderen Wölfe die Düne hinunter und bildeten einen Kreis um die beiden. Dann senkten sie ergeben ihre Köpfe, setzten sich und stimmten ein minutenlanges Heulen an, erfüllt von Dank und tiefster Freude.
„Was wird nun passieren?“, fragte Renyan, doch der Vanyanar antwortete ihm nicht gleich. Jindos glasige Augen ruhten fest auf Vater und
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