Anemonen im Wind - Roman
sie etwas sagen konnte, ließ er sie wieder los und schloss die Augen, als ob ihn beschämte, was sie Verborgenes darin sehen konnte.
Sie spürte, dass ihr die Tränen kamen, und wandte sich ab. Sie half, den Sarg zu Charlie auf den Wagen zu heben. Mit zitternden Händen zog sie die Flagge zurecht, die über die blank polierte Holzkiste drapiert war, und legte den Hut mit der kecken Kokarde sorgfältig obenauf. Weitere furchtbare Beweise für das, was in der Welt außerhalb von Warratah vor sich ging, brauchte sie nicht. Die Trauer um diese beiden jungen Männer war beinahe unerträglich. Plötzlich wurde es ihr sehr wichtig, Charlie am Leben zu erhalten.
Aurelia und ihre Schwester ritten rechts und links neben dem Wagen her. Der Schock über Charlies unerwartetes Erscheinen und Ellies Reaktion darauf war immer noch nicht verflogen. Aber Aurelia hoffte, dass dieser schreckliche Tag ihre Nichte endlich dazu bewegen würde, der Realität ins Auge zu sehen. Hoffte, dass sie jetzt anfangen könnte, zu trauern und dem Schmerz, den sie so offensichtlich unterdrückt hatte, freien Lauf zu lassen. Aber dunklere Möglichkeiten dämmerten am Horizont; das hatte sie begriffen, als Ellie mit den Zügeln klatschte und sie zu dem kleinen Friedhof hinter dem Farmhaus von Jarrah fuhren. Charlie war Joes Zwillingsbruder – die andere Hälfte des Mannes, den Ellie mit solcher Leidenschaft liebte. Welche Wirkung würde seine Heimkehr auf ihre Nichte haben? Welchen Schaden würde seine Anwesenheit anrichten?
Aurelia schaute die anderen an. Der Priester saß mit geradem Rücken und aufrechter Kopfhaltung neben Ellie auf dem Kutschbock. Wilf hockte zusammengesunken daneben, ein verschrumpelter Mann, der in seinem Leben schon allzu viel gesehen hatte und sich fragen musste, ob es gerecht war, dass so viele junge Menschen starben, während er schwerfällig auf ein hohes Alter zusteuerte.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem jungen Mann hinten auf dem Wagen zu und versuchte, diesen hageren, kriegsmüden Veteranen mit dem charmanten Gauner in Einklang zu bringen, an den sie sich erinnerte. Da war keine Spur mehr von dem frechen Grinsen und dem Funkeln der Erregung in seinen Augen – trotz der Orden, die er sich verdient hatte. Der Krieg hatte ihm seinen Glanz genommen, seine Lust auf Leben und Abenteuer abgetötet – so sicher, als hätte er den Mann selbst umgebracht. Und was Seamus anging … Betrübt schaute Aurelia zu dem Sarg. Sie hatte solche Pläne für ihn und Ellie gehabt, und als die beiden einander näher gekommen waren, hatte sie wirklich geglaubt, dass daraus etwas werden könnte. Aber ihreErinnerungen drehten sich um einen Jungen, einen jugendlichen Draufgänger, der schnell und gewandt reiten und eine Herde ebenso gut wie ein doppelt so alter Mann zusammentreiben konnte. Sein Geschwätz hatte sie alle bezaubert und zum Lachen gebracht, und noch heute sah sie das Zwinkern in seinen blauen Augen, wenn er über die eigenen Witze lachte.
Sie drängte die Tränen zurück. Sie alle würden ihn anders in Erinnerung behalten. Ellie würde sich an den Jungen erinnern, den sie zu lieben gelernt hatte wie einen Bruder. Charlies Erinnerung an ihn wäre die an den Soldaten, der an seiner Seite gekämpft hatte, an den Mann, der mit ihm zusammen zur Armee gegangen war, an den Mann, der in der Schlacht um El Alamein nicht so viel Glück gehabt hatte wie er.
Charlie verzog schmerzlich das Gesicht, als der Wagen über einen Stein holperte, und legte eine Hand schützend auf den Sarg. Aurelia sah, wie seine Finger auf der Flagge zitterten, wie sie über die Kokarde strichen, während seine Lippen Worte formten, die nur er hören konnte. Sein blondes Haar war dunkel vom Schweiß, seine Uniform unter den Armen und auf der Brust fleckig verschwitzt, aber das schien er gar nicht zu merken. Er bot einen kläglichen Anblick, und auch wenn seine Heimkehr sie mit düsteren Vorahnungen erfüllte, flog ihr Herz ihm entgegen.
Der Friedhof war durch einen weißen Lattenzaun vom Weideland getrennt und mit kleinen Büschen und Schatten spendenden Bäumen gesäumt. Die meisten Grabsteine waren stumpf verwittert; Flechten und Moos hatten die Inschriften auf den älteren unleserlich gemacht, und die flachen Steine hatten sich aus ihren Verankerungen gelöst. Weidenzweige wehten im Wind, das Gras raschelte in der leichten Brise, und das Summen der Insekten verlieh dem Ort eine gewisse Schläfrigkeit; es war ein friedlicher Ort, ein Ort, an dem die müde
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