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Anemonen im Wind - Roman

Anemonen im Wind - Roman

Titel: Anemonen im Wind - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamara McKinley
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verschwinden kannst, bevor ich die Polizei rufe.«

SIEBZEHN

    D ie Sonne ging unter, als Pferd und Reiter die Höhe der schützenden Hügel um Warratah erreichten, und Charlie konnte sich nicht versagen, einen letzten Blick auf das Land zu werfen, das um ein Haar ihm gehört hätte. In seinem Schädel pochte der Schmerz, und ein Auge war fast zugeschwollen, aber er ignorierte das schmerzhafte Stechen in seiner Seite und ließ den Blick über die ausgedehnte Ebene wandern, die sich ins Unendliche zu erstrecken schien. Das Haus sah so klein aus von hier oben, und die Menschen, die dort umherwimmelten, waren wie Ameisen. Es war, als schrumpfe Warratah vor seinen Augen, als weiche es immer weiter zurück, verflüchtige sich im orangegelben Glanz der untergehenden Sonne wie ein schöner Traum, den er einmal gehabt hatte.
    Ellie war dort unten. Das Mädchen, das er geliebt und begehrt hatte, und zwar mit einer Leidenschaft, die so groß war wie das Bedürfnis, einen Ort zu haben, den er sein Zuhause nennen könnte.
    Tränen rollten über sein zerschlagenes Gesicht, als er an ihre letzten, brutalen Worte dachte, und wieder sah er den Hass in ihren braunen Augen, die ihn doch einmal mit so viel Zuneigung angeschaut hatten. »Ich habe dich wirklich geliebt«, flüsterte er. »Ich wollte dir nicht wehtun.« Aber in einem Winkel seines Herzens wusste er, dass Warratah ihm noch mehr bedeutet hatte, denn es war zum Symbol des Sieges über seinenBruder geworden – eines Sieges, der jetzt hohl erschien wie eine Totenglocke.
    Charlie saß da, bis die Dunkelheit ihren Schleier über die üppigen Weiden gelegt hatte. Das heisere Gelächter von zwei revierbewussten Kookaburras schien ihn zu verspotten. Zum letzten Mal lenkte er sein Pferd auf die Nordgrenze von Warratah zu. Er hatte keine Pläne, kein Ziel. Das Einzige, was sein Bewusstsein erfüllte, war das spukhafte Wispern, das durch seine Gedanken wehte. »Du bist das schlechte Samenkorn. Du hast deinen Bruder getötet. Du hast einen Teil deiner selbst getötet.«
    Charlie sank im Sattel zusammen und zog sich immer mehr in sich selbst zurück; die Dunkelheit breitete sich in seinem Kopf aus, und seine Qual hallte darin wider. Das Bild seines Zwillingsbruders leuchtete immer wieder wie ein heller Blitz in dieser Dunkelheit auf, Joes geisterhafter Schatten folgte ihm, knapp außer Reich- und Sichtweite – aber er wusste, dass er da war. Wusste, dass er ihn für den Rest seiner Tage verfolgen würde.
    Der Sandsturm war fast ohne Vorwarnung aufgezogen. Er fegte über die endlos leere rote Erde des Northern Territory und raste über alles hinweg, was auf seinem Weg lag.
    Charlie war ein paar Monate lang rastlos über die Staatsgrenze von Westaustralien, durch das Northern Territory nach Queensland und wieder zurück geritten. Auf abgelegenen Farmen hatte er hier und da Arbeit gefunden, aber nirgends hatte er sich niederlassen können, und nie hatte er Kontakt zu den anderen Männern gefunden. Er wusste, dass sie ihn für sonderbar hielten, für rätselhaft. Aber er hatte sich absondern müssen, denn niemand durfte wissen, dass er gesucht wurde.
    Tagsüber blickte er immer wieder über die Schulter zurück, und nachts träumte er von Gewehrschüssen und Heckenschützenkugeln, und immer wieder erschienen ihm auch sein Bruder und Ellie als geisterhafte Schemen. Diese Träume verwirrtenund ängstigten ihn sehr, und allmählich wurde ihm seine Sonderbarkeit bewusst, die Realität entglitt ihm zusehends und ließ ihn in einer leeren, grenzenlosen Dunkelheit zurück, aus der ein Entkommen mit jedem Mal schwerer wurde.
    Er merkte, dass der Himmel sich verdüsterte. Merkte, dass der Wind plötzlich nachließ, spürte die Stille, die das Nahen des Sturms ankündigte. Aber der dumpfe Schmerz in seinem Kopf war so überwältigend, dass er weiterritt, ohne sich um die Gefahr zu kümmern. Die Ärzte im Lazarett hatten ihn gewarnt, dass so etwas passieren könnte. Das Schrapnell wanderte – er konnte es fühlen. Seine Zeit lief ab, und der Tod war ihm willkommen.
    Endlich schaute er zum gelben Himmel hinauf, der Wetterfront entgegen, die wie eine dunkle Wunde auf ihn zukam. Er schwang sich aus dem Sattel, gab seinem Pferd einen Klaps aufs Hinterteil und ließ es dahin zurückgaloppieren, wo sie hergekommen waren. Dann blieb er stehen, dem Mahlstrom zugewandt, und forderte ihn mit ausgebreiteten Armen heraus, ihn zu holen.
    »Sieh mich an, Joe«, schrie er in die zunehmende Dunkelheit. »Sieh

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