Anemonen im Wind - Roman
versprochen, dass sie für immer zusammenbleiben würden. Aber am Tag vor seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag wollte er nicht mehr aufwachen. Er hatte sich in der Nacht davongemacht, und sie hatte es nicht einmal gemerkt.
Sie war untröstlich gewesen. Hatte bittere Tränen geweint. Tränen des Bedauerns. Tränen des Schmerzes. Dann war dasLeid zu Zorn geworden. Wie konnte er es wagen, sie zu verlassen, wenn er doch wusste, wie sehr sie ihn liebte? Mit welchem Recht legte er sich für die Ewigkeit schlafen, während sie noch den mühsamem Kampf gegen die Gebrechlichkeit des Alters focht? Und dann schließlich hatte sie es akzeptiert, und sie hatte sicher gewusst, dass sie eines Tages wieder zusammen sein würden.
Undeutlich drangen Stimmen aus der Nähe in ihr Bewusstsein. Die Stimmen der Menschen, die sie liebte. Und das wollte sie ihnen gern sagen. Aber irgendetwas zog sie fort von Jarrah, fort von den Stimmen und dem Leid dessen, was in der Nacht geschehen war, und als sie immer tiefer in der warmen Dunkelheit des Schlafes versank, lächelte sie. Denn dort war Jack.
Groß und schlank, mit silbergrauem Haar und mit den braunen Augen, die lachten wie über einen heimlichen Witz, als sie auf sie herabschauten. Auf seiner Schulter hockte Kelly.
»Feind von hinten«, krähte der Kakadu. »Arsch zusammenkneifen.«
»Das gehört sich aber nicht vor einer Lady«, sagte Jack und strich über die weißen Federn.
»Örrrk«, krächzte Kelly und sträubte boshaft den Kamm.
Jack lachte. »Er ist immer noch derselbe alte Kelly«, sagte er zärtlich. Dann schaute er sie an, und Aurelia war es, als könne sie sein Lieblingsrasierwasser riechen.
»Jack?«, murmelte sie. »Wo bist du gewesen? Ich hab dich vermisst.« Die Worte kamen als Seufzer aus ihrem Mund.
Jack streckte ihr lächelnd die Hand entgegen. »Ich habe auf dich gewartet, Darling«, flüsterte er. »Komm, Aurelia. Lass uns gehen.«
Aurelia fühlte die Wärme und Kraft seiner Hand, die ihr so wunderbar vertraut war. Sie schaute nicht mehr zurück. Denn dies war es, worauf sie gewartet hatte.
Er lächelte auf sie herab und schob ihre Hand in seine Armbeuge. »Hab ich dir je gesagt, wie sehr ich dich liebe, Darling?«
Sie nickte, und zusammen gingen sie freudig in das helle, warme Licht.
Leanne war hinausgegangen, um die tägliche Arbeit zu beaufsichtigen, und Ellie war allein in der Küche zurückgeblieben. Sie nahm einen Schluck Kaffee. Er war stark und schwarz, aber er trug kaum dazu bei, ihre Stimmung zu heben. Die schlaflose Nacht und das Erzählen ihrer Geschichte hatten sie völlig erschöpft; sie wollte sich nur noch wie ein Kind im Bett zusammenrollen und schlafen. Das wäre eine Art Flucht. Eine Möglichkeit, die harte Realität des Lebens auszusperren, des Schadens, den Charlie und sie angerichtet hatten. Aber um wie viel schwerer musste es für Claire sein? Das Mädchen würde so viele Dinge zu verarbeiten haben – und nur wenige davon waren angenehm.
Seufzend stellte Ellie die Kaffeetasse ab und wischte sich die Tränen ab. Sie musste stark bleiben. Musste dem Ruf der Frauen von Warratah gerecht werden. Denn sie war eine Mutter, eine Ehefrau – der Mensch, von dem alle Kraft und Trost erwarteten. Sie durfte sie nicht im Stich lassen. Nicht, wenn sie sie am nötigsten brauchten.
Und als sie so im Licht des frühen Morgens in der Küche saß, wurde Ellie plötzlich klar, dass Charlie nicht mehr die Macht hatte, sie zu verletzen und ihr Leben zu überschatten. Ihr Geheimnis war ans Licht gekommen, und die Konsequenzen waren die nächste Hürde, die sie nehmen musste. Sie war bereit, für die Menschen, die sie liebte, zu kämpfen. Bereit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und unbeschadet wie ungebeugt daraus hervorzugehen. Die Frauen von Warratah waren nicht zu besiegen.
Sie verspürte nagenden Hunger, und ihr wurde bewusst, dass sie alle seit Stunden nichts mehr gegessen hatten. Die Mädchen würden ausgehungert sein, wenn sie zurückkämen. Währendsie sich am Herd zu schaffen machte, legte sie den Kopf schräg und lächelte. Aurelia machte ein schreckliches Getöse. Ihr Schnarchen erinnerte an einen Stall voller Schweine, und es war erstaunlich, dass sie selbst davon nicht aufwachte.
Einige Zeit später war es plötzlich still. Das Stentorschnarchen war jäh verstummt. Ellie nahm die Bratpfanne vom Feuer und lauschte. Die Stille war ominös. Sie stürzte ins Wohnzimmer und fiel vor der Couch auf die Knie. »Aurelia?« Ihre Stimme war
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