Anemonen im Wind - Roman
ihn herab. »Es gibt keine andere Möglichkeit, mein Sohn«, sagte der Tierarzt leise. »Der Arme leidet Höllenqualen. Das können wir nicht zulassen.«
Charlie unterdrückte die Tränen. Er streichelte den eleganten Hals und fuhr mit den Fingern durch die lange Mähne. Satan schien Notiz von ihm zu nehmen, und sein leises Wiehern brach Charlie das Herz. »Dann machen Sie ’s schnell«, sagte er unvermittelt, stand auf und wandte sich ab.
Er drängte sich durch das Gewimmel der Menge, ohne zu beachten, wohin, taub für alles um sich herum. Erst der dröhnendeGewehrschuss ließ ihn erstarren. Er schwankte; das Echo des Schusses hallte durch seinen Kopf, und glühende Wut schäumte in ihm auf, bis er sich nicht länger unterdrücken konnte. Die Menge teilte sich vor ihm, als er auf die Wiegekammer zustürmte. Der andere Jockey war bereits ein toter Mann.
Charlie stürzte in die Kammer und schlug die Fliegentür so heftig hinter sich zu, dass sie fast aus den Angeln flog. »Wo steckst du, du Schwein?«, brüllte er in das erschrockene Schweigen. »Komm raus und zeig deine Visage, du feiger Dingo!«
Das dürre Männchen kam von hinten heran, umringt von sechs anderen, die genug Muskeln hatten, um für ihn zu kämpfen. »Suchst du mich?«, fragte er grinsend.
»Ganz recht, ich suche dich«, fauchte Charlie und ging dem anderen an die Kehle.
Starke Hände hielten ihn zurück. Die Freunde des Jockeys bildeten einen undurchdringlichen Ring um den Mann. »Solltest nicht mit den Erwachsenen spielen, wenn du nicht verlieren kannst«, sagte der kleine Mann.
»Du bist ein dreckiger, stinkender Köter«, schrie Charlie und versuchte verzweifelt, sich von den starken Händen zu befreien, die ihn festhielten. »Du hast mich mit der Peitsche geschlagen. Mir gegen den Steigbügel getreten. Du bist nichts als ein gottverdammter Betrüger.«
»Ich wäre mit solchen Worten vorsichtig, Söhnchen«, sagte der kleine Mann kalt. » Dir steht es jedenfalls nicht zu, einen anderen Betrüger zu nennen.«
Charlie starrte mit wildem Blick in die Runde. Nirgends sah er ein freundliches Gesicht. Das Schweigen war von elektrischer Spannung erfüllt. »Du bist ein Betrüger«, schrie er. »Wenn du nicht getan hättest, was du getan hast, hätte mein verdammtes Pferd gewonnen.«
Die Männer rückten näher heran, bis Charlie Bier und Tabak in ihrem Atem riechen konnte. Er las die Verachtung in ihremBlick, und ihr Blutdurst war beinahe spürbar. Zum ersten Mal im Leben bekam er Angst.
»Betrüger ist ein hässliches Wort«, zischte der kleine Mann. »Ein hässliches Wort, das zu Schweinen wie dir passt, die einem anderen das Pferd stehlen.« Er blickte in die Runde, und die anderen nickten zustimmend. Er wandte sich wieder Charlie zu. »Weißt du, wir mögen keine Schleicher hier in der Stadt. Großmäuler, die herkommen und stehlen, was ihnen nicht gehört. Wir haben unsere eigene Art, mit ihnen fertig zu werden.«
Charlie versuchte sich loszureißen, aber die Männer hielten seine Arme unerbittlich im Klammergriff. Er war gefangen. »Aber du hast betrogen«, schrie er trotzig. »Du hast mich behindert.«
»Ich hab davon nichts gesehen«, sagte der Rennbahnleiter und sah die anderen an. »Hat einer von euch so was mitgekriegt?«
Alle schüttelten einhellig die Köpfe.
Der Jockey trat einen Schritt näher. Sein Scheitel reichte Charlie knapp bis an die Brust. »Dass mein Pferd gewinnt, stand in dem Augenblick fest, als wir rausgefunden hatten, wer du bist und was du vorhast«, schnarrte er. »Um Joes Pferd tut’s mir Leid. War ’ne Schönheit. Aber einen miesen Schleicher wie dich hatte es auf seinem Rücken nicht verdient.«
Charlie schwitzte. Ein harter, kurzer Hieb in den Magen ließ ihn nach Luft schnappen, und fast hätten seine Knie unter ihm nachgegeben. Hände stießen ihn zur Tür hinaus, und er fiel der Länge nach in den Staub. Er rang nach Atem, und neugierige Zuschauer umringten ihn glotzend. Seine Demütigung war vollkommen.
»Verschwinde hier!«, schrie der Vorsitzende des Rennausschusses. »Ich werde dafür sorgen, dass du nie wieder in einem Rennen mitreitest – jedenfalls nicht in diesem Land.«
Missbilligendes Gemurmel folgte Charlie, und ein Meer von Menschen wogte vor ihm auseinander. Er drückte sich denHut in die Stirn. Den Blick starr zu Boden gerichtet, ging er zu der Koppel, auf der er seine Hütepferde abgestellt hatte. Wenn Snowy in der schweigenden Menge war, ließ er sich nicht sehen, und Charlie
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