Angeklagt - Dr. Bruckner
und überflog ihn kopfschüttelnd. »Mit dem Wort ist immer noch das unglückliche Erbe der Nazizeit verbunden. Im Grunde genommen sind wir ja wirklich eine Euthanasie-Klinik, wenn man so will.«
»Sie werden das doch nicht zugeben!« Oberarzt Wagner hatte nur mit halbem Ohr zugehört. »Wenn Sie das auch noch sagen …«
»Ich sage es ja auch nur Ihnen«, lenkte Professor Bergmann ein. »Ich betone in meiner Vorlesung ja immer wieder, daß Euthanasie nichts weiter heißt, als einem Menschen zu einem würdigen und damit schönen Tod zu verhelfen – ohne Apparate – ohne Schläuche und ohne Spritzen! Wie unsere Großeltern einmal gestorben sind, als die Technik noch nicht vom Menschen Besitz ergriffen und auch nicht versucht hatte, seine Seele in Ketten zu legen, wie es unsere sogenannten Wissenschaftler heute tun.«
Er griff nach seinem Krückstock, den er an der Schreibtischkante aufgehängt hatte, stand auf und trat ans Fenster. »Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier irgend jemand seine Hand im Spiel gehabt hat, daß man wirklich versucht hat, was man damals –«, Professor Bergmann drehte sich um und strich sich über seine weißen Haare, »unter dem Begriff Euthanasie verstand.«
»Aber wer soll das gewesen sein?« Theo Wagner nahm seine Brille ab, schaute durch die Gläser, putzte sie und setzte sie wieder auf. »Ich habe da ein Gerücht gehört.« Er rückte den Stuhl zurecht, als der Professor zum Schreibtisch zurückkehrte und sich setzte. »Ich weiß«, fügte er einschränkend hinzu, als er sah daß Bergmann abwehrend die Hand hob. »Sie halten nichts von Gerüchten. Ich auch nicht. Aber sollte man nicht in diesem Fall jedem Gerücht nachgehen?«
»Und was für ein Gerücht ist das?«
Oberarzt Wagner lehnte sich gegen den Schreibtisch, beugte sich vor und sprach leise, als fürchte er, jemand könne ihn hören: »Wir haben doch eine Doktorandin hier …«
»Fräulein Pellenz«, ergänzte der Professor den Namen. »Sie glauben doch nicht etwa, daß sie –«
Oberarzt Wagner hob seine Hand. »Einen Augenblick, Herr Professor, worüber arbeitet sie?«
»Über den Begriff der Euthanasie. Ich habe ihr die Arbeit gegeben, damit endlich einmal der Begriff richtig klargestellt wird. Ich wollte ihre Untersuchungen dazu benutzen, um den Menschen klarzumachen, daß sie endlich darauf verzichten sollen, den Tod um Stunden, vielleicht um Tage hinauszuzögern. Daß sie nichts dabei gewinnen, daß sie aber Leidende um eines bringen: um eben jenen ›schönen Tod‹ wie die Griechen der Klassik ihn sich wünschten.«
Er hatte sich in Erregung geredet. Seine weißen Haare standen wie ein Heiligenschein von seinem Kopf ab. »Ich bin ein alter Mann. Wissen Sie –«, er klopfte auf seine Brust, »in meiner Brieftasche habe ich einen Zettel, auf dem steht, daß man mich auf gar keinen Fall auf eine Intensivstation bringen soll, wenn ich einmal schwer krank bin. Ich möchte in Frieden – ohne Technik – sterben.«
Oberarzt Wagner hatte ungeduldig zugehört; als der Professor eine Pause machte, sprach er sofort: »Es ist der Verdacht aufgetaucht, daß sich Fräulein Pellenz bei der Klärung des Begriffes Euthanasie in den Kopf gesetzt hat, Schwerstkranke von ihren Leiden zu erlösen, also das zu treiben, was man in den unseligen dreißiger Jahren unter diesem Begriff verstand.«
Es trat eine Stille ein. Professor Bergmann schaute Oberarzt Wagner an, als habe er nicht begriffen, was dieser gesagt hatte. Es war so still im Zimmer geworden, daß man die Geräusche, die aus der Klinik hereindrangen, als laut und störend empfand.
»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß unser Fräulein Pellenz …« Professor Bergmann stand auf. Er ging zum Fenster und schaute in den Garten. Als er sich umdrehte, sah sein Gesicht alt und zerknittert aus, als sei er plötzlich um Jahre gealtert.
»So etwas kann ich mir nicht vorstellen!«
»Ich im Grunde auch nicht. Aber überlegen Sie doch«, Oberarzt Wagner schnellte einen Zeigefinger hoch, »sie arbeitet über dieses Thema –«, der zweite Finger folgte, »sie ist die einzige, die Zugang zu den Kranken hat, die dauernd bei ihnen ist und sie, um die Arbeit zu vollenden, laufend beobachtet und –«, der dritte Finger ging hoch, »sie hat den Patientinnen eingeredet, die Obduktion zu verweigern. Es tut mir leid, Ihnen diesen Verdacht mitteilen zu müssen. Ich habe Fräulein Pellenz auch immer sehr geschätzt. Aber –«, seine Züge verhärteten
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