ANGEL - Wolfsmensch (German Edition)
konnte niemanden gebrauchen, der es nicht verkraften konnte, für sein Überleben zu töten. Ganz egal, ob Mann, Frau oder Kind. Jeder seiner Brüder, auch jene, die zuvor menschlich waren, besaßen diese Skrupellosigkeit.
Ira sah den beiden eine Weile zu. Trotz der amüsanten Ablenkung hatte es nicht besonders lange gedauert, ehe seine Gedanken wieder bei Angel waren.
Sie waren jetzt schon zwei Wochen getrennt. Nur schwach fühlte er noch den Nachhall ihres Pulses in seinem Blut. Sie war weit weg von ihm.
Die Vampirin, Angels Schwester, war seither einige Mal hier gewesen. Sie war nun Tonys Gefährtin, wie Ira nicht ohne Staunen erfahren hatte. Tony zuliebe hatte er diese Beziehung erlaubt. Seine Brüder hatten nichts gegen die Gesellschaft der Vampirin. Sie mochten sie. Auch, wenn sie eine Unsterbliche war und somit eigentlich ihre Beute.
Das Klopfen an der großen Eichenholztür schreckte Ira aus seinen Gedanken. Er wandte sich halb um und nur einen Augenblick später trat Oscar ein. Er brachte ein Tablett mit Tee und kleinen Sandwiches.
„Ein kleiner Aperitif!“, kündigte der Haushälter an, „Das Essen ist in wenigen Minuten fertig, die Herren.“
Und wie sehr hatte sich sein Herz gefreut, als er erfahren hatte, dass sein alter, guter Diener noch lebte. Wenig hatte ihn je glücklicher gemacht. Oscar war so ein fabelhafter Mensch! Dass er noch lebte, machte Iras Rückkehr perfekt.
Es war kurz vor Sonnenaufgang und das letzte, gemeinsame Essen für diese Nacht stand an. Diese gemeinsame Zusammenkunft war eine neuere Tradition, die Tony als sein Vertreter eingeführt hatte. Ira gefiel diese Angewohnheit und er hatte nichts dagegen, mit all seinen Brüdern zu essen. Wenngleich er kaum etwas aß. Sein Hunger forderte etwas anderes. Die normale Nahrung hatte sich, im Vergleich zu früher, dramatisch verändert. Die Auswahl war überwältigend und die Geschmäcker betörend. Nur langsam gewöhnte sich sein Magen wieder an feste Kost.
Ein paar Minuten später sammelten sich die Brüder im großen Speisezimmer nebenan. Der Raum glich eigentlich eher einem Ballsaal. Hohe, weite Decke, blanker Parkettboden. An jedem Ende des rechteckigen Raumes ein großer Kamin. Die Wände und Vorhänge waren in einem sanften Cremeton gehalten. Überall standen große, goldene Kerzenständer, in denen dicke Kerzen brannten und ihr weiches Licht mit dem der drei großen Kronleuchter mischten.
An der langen Tafel, an der die Brüder speisten, saß Ira am Kopfteil, der Platz der ihm gebührte. Nie war er besonders versessen darauf gewesen, wie ein Herrscher behandelt zu werden, aber es gefiel ihm, dass seine Brüder ihn nach wie vor mit diesem Respekt behandelten. Er hatte keinen besonderen Appetit, ihn dürstete es nach Angel, aber die befand sich noch außerhalb seiner Reichweite. Seine Brüder hingegen aßen fröhlich, bedanken sich bei Oscar für das gute Essen und ließen sich immer wieder nachlegen. Ja, verfressen konnten sie sein. Das waren sie schon immer gewesen. Schmunzelnd beobachtete Ira das vertraute Bild seiner Brüder.
Seine Art brauchte Essen, wie jeder Sterbliche. Zwar sicherte etwas anderes ihr Überleben, aber um zwischen ihren eigentlichen Nahrungsaufnahmen bei Kräften zu bleiben, brauchten sie das Essen. Da sie eine hohe Stoffwechselrate hatten, konnte jemand wie Tony auch locker schon mal für vier essen.
Der einzige Andere, der ebenso wenig aß, wie Ira derzeit, war sein Bruder Abel. Abel war der Zweite gewesen, den Ira zu sich geholt hatte. Er war ihm aufgefallen. Damals schon ... Es war so lange her ...
Langsam gingen die Geräusche des Abendessens im Rauschen der Erinnerungen unter. Oft ereilten ihn seit seiner Befreiung Szenen aus seinem früheren Leben, einer Zeit, die nun bereits längst vergangen war.
Ira und Tony waren in Paris gewesen, es war Winter, und sie fanden Abel in einer Seitengasse. Halb vom Schnee begraben. Er lehnte an einer Wand. Halbtot vom Hunger. Abgemagert bis kaum mehr Knochen von ihm übrig waren. Die Augen glasig, fiebrig ...
Ira wusste vom ersten Augenblick an, dass er ein Dämon war. Erkannte es an seinem Geruch. Ein Werwolf, der vor lauter Hunger bereits zu schwach war, um sich noch zu verwandeln. Oder sich einfach nur zu wehren. Man hatte ihm bereits all seine Habseligkeiten, seine Kleider und Schuhe gestohlen. Nicht mehr lange und er wäre verhungert und erfroren in der Kälte.
Ira war fasziniert vom Wesen dieses Mannes. Schon damals hatte er das Gefühl gehabt, das
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