Angela Merkel - Ein Irrtum
mittlerweile einen Konsens zwischen Ost und West zu geben: »Soziale Sicherheit« spielt im Wertekanon aller die größte Rolle. Damit ist das Geschenk entwertet, das freiheitsdürstende DDR-Bürger 1989 ja auch den Westdeutschen gemacht haben. Ihr Mut und ihr Freiheitswillen gaben den Anstoß für den Fall der Mauer. Und sie standen dabei auf den Schultern anderer, die mit Ungarn 1956, Prag 1968 und der Solidarność 1981 verbunden sind.
Dennoch ist nicht der 9. November 1989 zum neuen Gründungsdatum geworden. Den Tag der Deutschen Einheit ausgerechnet an diesem Tag zu feiern, verbot, so scheint’s, die Pietät. Am 9. November 1938 begann ein vom NS-Staat organisierter Angriff auf die Juden in Deutschland, eine »Maßnahme«, die der Volksmund »Reichskristallnacht« nannte, im Spott über das staatlich Durchorganisierte des »spontanen Volkszorns«. Dieses Ereignisses wegen kam der 9. November nicht infrage, man fürchtete, die Judenvernichtung würde durch den neuen Gedenktag als Gründungsmythos abgelöst, ja durch die Feier des Positiven verdrängt werden.
Verbot es sich wirklich? Ist nicht der Sieg der Freiheit über die Diktatur das einzig angemessene Siegel auf dem Beschluss, nie wieder solche Verbrechen zuzulassen? Wäre das nicht Grund gewesen für ein bisschen deutschen Stolz, für ein wenig Emphase, für eine Feier des größten Menschenrechts: die individuelle Freiheit?
Doch schon die Debatte über die Frage, ob Deutschland
sich angesichts seiner Vergangenheit überhaupt wiedervereinen dürfe, offenbarte 1989 ein schräges Geschichtsbild.
Zu diesem Geschichtsbild gehört die These, ein aggressiver preußisch-deutscher Nationalismus, der sich in der Gründung eines Nationalstaats der Deutschen durch Bismarck bestätigt habe, liege an der Quelle des Unheils. Aus dieser Spielart eines negativen Nationalismus, der an die schlichte Weltsicht in den weiland aus der DDR in die Bundesrepublik importierten Geschichtsbüchern erinnert, speiste sich die Überzeugung, die 1989 nicht nur bei deutschen Dichtern, sondern auch beim späteren Außenminister Joschka Fischer reflexhaft hochschwappte: die Überzeugung nämlich, die Teilung Deutschlands sei die gerechte Strafe der Alliierten für Auschwitz. Und deshalb dürfe es keine Wiedervereinigung geben.
Eine solche Strafe allerdings sieht kein Kriegsvölkerrecht vor, nicht damals und nicht heute. Diese Geschichtsdeutung käme also dem Vorwurf an die Alliierten gleich, sie hätten sich 1945 in Siegerattitüde völkerrechtswidrig verhalten. Nicht Schuld, sondern die Macht des Faktischen war ursächlich für die deutsche Teilung. Erst hatten die Westalliierten einen großen Teil des deutschen Reichsgebiets Stalins Zugriff überlassen. Und dann, mit dem aufbrechenden Antagonismus zwischen dem Westen und der Sowjetunion, versuchte man wenigstens die Besatzungszonen der Westmächte zu halten, statt ein vereintes Deutschland gleich ganz dem Gegner zu überlassen.
Insbesondere in Westdeutschland aber legte man sich die deutsche Teilung als Sühne zurecht, mit einer bemerkenswerten
Missachtung der Tatsache, dass ja die Menschen in der DDR die Zeche für die Befreiung durch die Rote Armee weitgehend allein zu zahlen hatten. Nach der ersten Rührung über den welthistorischen »Wahnsinn«, der sich an einer Grenze abspielte, die manch einer für ewig hielt, dominierte bald wieder die reflexartige Abwehr einer »Wiedervereinigung«, die einigen noch kurz vor dem Mauerfall als »Lebenslüge« erschienen war (Willy Brandt, Gerhard Schröder), als »reaktionär und höchst gefährlich« bzw. »opportunistisch und widerwärtig« 31 .
Und als es dann doch zu dieser Widerwärtigkeit kam, durfte man sich erst recht nicht allzu sehr freuen. Vor allem die Ossis nicht, die sich mit ihrem »pausbäckigen DM-Nationalismus« nicht nur bei Jürgen Habermas unbeliebt gemacht hatten. Schließlich: So großartig sei das » Geschenk« der Demokratie ja nun auch wieder nicht (Günter Gaus).
Die intellektuelle Bundesrepublik warnte vor sich selbst. Man hatte mit »Deutschland« nichts vor. Im politisch korrekten Teil Westdeutschlands sprach man schon lange von »BRD«, ganz so, wie es die SED sich wünschte. Und 1990? Und nach der wiedergewonnenen Souveränität? Ich erinnere mich noch gut an die Mahnung einer sozialdemokratischen Historikerin, angesichts der deutschen Einheit jetzt bloß nicht in die Rede von »Deutschland« zu verfallen.
Auch hier also wieder ein semantisches Problem.
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