Angela Merkel - Ein Irrtum
Diskussion bekommen über die Verwandlung der No-Bail-out-Klausel in eine No-Way-out-Klausel. Stattdessen hört man nur die altvertraute Weise von all den höheren Zielen und Werten, denen man Opfer bringen müsse, von unserer historischen Verpflichtung, vom Frieden, der deutsch-französische Freundschaft usw. usf.
Wer Verschwörungstheorien liebt, sollte sich die folgende Geschichte durch den Kopf gehen lassen: Am Tag, an dem es um diese 150 Milliarden Euro deutscher Steuergelder ging, am 9. Mai 2010, als in Brüssel über das Euro-Stabilisierungsgesetz verhandelt wurde, war Kanzlerin Merkel nicht anwesend. Sie war nach Moskau geflogen, stand neben Putin auf einer Tribüne am Roten Platz und ließ die Militärparade an sich vorbeiziehen, mit der man in Moskau den Sieg der Sowjetunion über das Deutsche Reich zu feiern pflegt. Berlusconi und Sarkozy hatten ihre Teilnahme wegen der Griechenland-Krise abgesagt.
Die deutschen Interessen sollte anstelle der Kanzlerin Finanzminister Wolfgang Schäuble vertreten. Doch der erlitt eine allergische Reaktion und musste ins Krankenhaus. Erst am Abend übernahm Innenminister Thomas de Maizière die Leitung der Delegation.
Der französische Staatspräsident Sarkozy und Finanzministerin Christine Lagarde sahen die Chance und nutzten sie.
Für alle, die Sinn für Ironie haben: In Moskau siegte Merkel mit der Roten Armee über Deutschland 28 , und in Brüssel nahm Frankreich Rache für Sedan. Und für Ersatz für die deutschen Reparationszahlungen im Gefolge des Ersten Weltkriegs, die seit September 2010 abgeleistet sind, ist nun auch gesorgt. Ach, es fällt schwer, sich den vielfältigen historischen Konnotationen zu entziehen.
Lautete die Botschaft dieser russisch-französischen Allianz womöglich, auch Deutschland dürfe sich heute als Sieger des Zweiten Weltkriegs fühlen – für einen gewissen Preis?
Scherz beiseite. In Deutschland, dem Land der Kultur gegen die schnöde Zivilisation, der Seele gegen den Krämergeist, galt das bloße »Interesse« immer als anrüchig. Nach Hitler natürlich verschärft, der seine Verbrechen mit dem »Interesse Deutschlands« gerechtfertigt hatte. Mit »deutschen Interessen« darf man uns also nicht kommen, da muss es schon um mehr gehen.
Also neigt man in diesem Land dazu, alles, was praktisch geboten ist oder zwangsläufig erscheint, mit moralischen Imperativen aufzurüsten. Für eine Beteiligung an der Intervention in Kosovo etwa musste während der rot-grünen Koalition »Auschwitz« herhalten, das es zu verhindern gelte. Höher kann man hierzulande nicht greifen. Wer sich auf Auschwitz beruft, macht sich unantastbar.
Und darin liegt auch das Problem. Wer sich mit der Menschheit, der Natur, den ganz großen Dingen verbündet, verzerrt den politischen Wettbewerb. Dass man »im
Gattungsinteresse« handle, war einst das Argument der Schwachen – etwa der noch jungen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert, die ihr Anliegen zum Menschheitsanliegen erklärte, das sich dem Streit partikularer Interessen entziehe. Das ist anmaßend, doch noch nicht gefährlich. Wenn aber Goliath behauptet, für die Menschheit zu stehen, ist das totalitär.
Der Anspruch auf die höhere Moral hat nicht selten den Charakter einer Erpressung. Und genau deshalb ist dieser Alleskleber so beliebt. Er hilft in allen Lebenslagen, vor allem wenn es an Argumenten fehlt. Er reklamiert übergeordneten Notstand: Wenn das Menschenrecht in Gefahr sei, müsse das förmliche Regelwerk auch schon mal Federn lassen – so oder so ähnlich argumentierten insbesondere deutsche Regierungsvertreter in Sachen Kosovo.
Und so versuchen es jetzt auch wieder manche Europapolitiker. Für das übergeordnete Ziel, ein geeintes Europa, das immerwährenden Frieden garantiere, müsse Deutschland seine Interessen hintanstellen und den Zahlmeister für undisziplinierte Bundesgenossen abgeben. Am besten bedingungslos. Unsere »Verpflichtung vor der Geschichte« lässt freundlich grüßen.
Das ist die moralische Falle, in die wir gern tappen. Wieder und immer wieder. Denn »Interesse«, diese durchaus übersichtliche und menschenfreundliche Angelegenheit, ist nur dann nicht leicht zu definieren, wenn es sich ums »deutsche Interesse« handelt. Denn dann müsste man ja wissen, was Deutschland ist und was dem Wohle des deutschen Volkes dient.
Leider reicht es nicht, alle vier Jahre wieder bei einer Fußballweltmeisterschaft die deutsche Fahne zu schwingen, so sympathisch mir das wäre. Angie
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