Angela Merkel - Ein Irrtum
so vielfach gebeutelt, betrogen, um sein Recht und um seine Freiheit gebracht, auf die Rolle des bloßen Opfers zu reduzieren. Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar – das wissen, mit Verlaub, nicht nur die Deutschen. Auch wenn die Wahrheit wehtut.
Und sie tut weh. In Polen haben die Untersuchungen über ein polnisches Pogrom an der jüdischen Bevölkerung in Jedwabne ebenso für Streit und Bestürzung gesorgt wie
Berichte über Verbrechen an Deutschen während Flucht und Vertreibung. Und nur langsam löst man sich von der Formel, Schlesien und Pommern seien »wiedergewonnene Gebiete«, hätten also immer schon zu Polen gehört (womit man sich um die rechtliche Seite der polnischen Besetzung nicht mehr kümmern musste). In einer Stadt wie Breslau kann man heute beobachten, dass man in Polen die ganze Geschichte annimmt – auch die deutsche.
Auch in Tschechien werden Massengräber mit deutschen Toten gefunden. Ein Kinofilm, der das Schicksal der Sudetendeutschen nach 1945 zeigt, gedreht von Juraj Herz, dessen Familie von den Nazis verfolgt wurde, war 2010 vor allem bei jungen Tschechen ein Publikumsrenner. 35 Und es ist kein Tabu mehr, über den aggressiven Nationalismus zu sprechen, der sowohl Polen als auch Tschechien längst vor Hitler beherrschte. Edvard Beneš erklärte folgerichtig, die Abschiebung der Deutschen aus der Tschechoslowakei sei keine »Rache« gewesen, sondern »einzig und allein die Erfüllung einer Forderung, die unsere Geschichte, unsere Gegenwart und Zukunft von uns verlangt« 36 . Auch hier wird also nicht über Kriegsfolgen gesprochen, sondern eine Art Ursprungsrecht in Anspruch genommen.
Selbstverständlich entlasten solche Erkenntnisse die Deutschen nicht, aber sie machen das wechselseitige Verhältnis ehrlicher. Sie knüpfen an das an, was Václav Havel sagte, als tschechoslowakischer Präsident, vor zwanzig Jahren – und manchmal kommt es einem so vor, als wären wir damals weiter gewesen: »Wir müssen uns alles sagen, so schlimm es auch immer sein mag.« 37
»Wir vergeben und bitten um Vergebung«, hieß es bereits im Jahr 1965 im Brief der polnischen katholischen Bischöfe an die deutschen Amtsbrüder, eine große Geste, die den kommunistischen Machthabern durchaus nicht recht war. Das sollte man nicht vergessen. Es gehörte in Polen lange Jahre zum machtpolitischen Instrumentarium, die Angst vor den Deutschen zu schüren, die wiederkommen und die Polen erneut vertreiben könnten. Der aggressive Nationalismus der Brüder Kaczynski hatte diese Methode übernommen. Doch mittlerweile ist die Versöhnungsbereitschaft der polnischen Kirche und der Bevölkerung auch in der Regierung angekommen. Polens Premier Donald Tusk meinte kürzlich: »Manche reduzieren die Verteidigung der eigenen Werte darauf, beständig daran zu erinnern, was andere uns angetan haben. Ich sehe das anders: Die Verteidigung der eigenen Werte wird dann erfolgreich sein, wenn wir als gleichwertige Partner, nicht als Opfer auftreten.« Das setzt voraus, dass auch der andere ein gleichwertiger Partner ist. Wenn man so will: auch der Täter.
Dass man vom liberalen Ministerpräsidenten Tusk in Sachen Zentrum gegen Vertreibung mehr Offenheit erwarten kann, zeigt das bemerkenswerte Projekt eines deutschpolnischen Schulbuchs, initiiert von Tusks Bürgerplattform und deutschen Sozialdemokraten und Liberalen. Eine deutsch-polnische Expertengruppe hat es fertig gebracht, die Schützengräben zu verlassen und in ihren Empfehlungen die jeweiligen nationalen Erzählungen nebeneinander stehen zu lassen, sie also zu historisieren – und die Frage nach der einen und einzigen Wahrheit offenzulassen. 38
Die Polen seien empfindlich, was »ihre Wahrheit« betreffe, sagte Donald Tusk einmal. Angela Merkel, dachte ich, versteht mehr von dieser Empfindlichkeit, als es im westdeutschen linken Milieu stets üblich war. Denn es gibt nicht nur eine polnische Empfindlichkeit, was Erika Steinbach betrifft. Man ist auch empfindlich, was den damaligen Umgang insbesondere der westdeutschen Linken mit Solidarność betrifft.
Während die Polen zu Beginn der 80er-Jahre für ihre Freiheit kämpften, hielt es die SPD für wichtiger, die Sowjetunion nicht zu verärgern. Bei den antiautoritären Studenten wurden Vertreter der Solidarność, die auf einer Reise durch die Bundesrepublik um Solidarität warben, schon mal ausgesucht liebevoll als »Kathofaschisten« bezeichnet.
Ins Gedächtnis des damaligen Solidarność-Mitglieds Donald Tusk hat
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