Angela Merkel
verfolgte eine Doppelstrategie. Im Prinzip begab sie sich wieder in den Zustand der Schwebe, ihren Lieblingszustand. Sie wartete ab. Es war eine seltsame Zeit mit ihr. Einerseits kamen Signale, dass sie wenig hält von Konjunkturprogrammen, vor allem von Steuererleichterungen. Andererseits wurde gesagt, dass man abwarten müsse, was Obama mache, wenn er die Präsidentschaft in den Vereinigten Staaten übernimmt. Dann würde es eventuell auch in Deutschland zu neuen, abgestimmten Staatseingriffen kommen. Aber warum warten? Es war schon im November klar, dass Obama massiv in die amerikanische Wirtschaft investieren würde. Esgab keine Konsistenz in Merkels Argumentation, keine Linie. Alles wirkte unentschieden, zögerlich, ungekonnt. Dementsprechend war das Ergebnis. Es gab ein kleines Konjunkturprogramm I,von dem niemand erwartete, dass es die Krise wirklich lindern würde. Die Debatte ging weiter und wurde auch europäisch geführt. Vor allem der französische Präsident Nicolas Sarkozy kritisierte Merkel unverhohlen für ihre Weigerung, rasch eine Menge Staatsgeld in die Konjunktur zu pumpen. Eine Weile wirkte Deutschland fast isoliert in der EU.
Merkel blieb ambivalent und verschwand hinter ihrem Finanzminister. Es war Steinbrück, der für die Regierung eine Linie vertrat und damit zur tragischen Figur wurde. Bis zum Sommer 2008 war er der Vater des größten Erfolges der Großen Koalition: Die Bundeshaushalte kamen mit sinkenden Defiziten aus, so dass für das Jahr 2011 eine Neuverschuldung von null angepeilt werden konnte. Diesen Erfolg wollte Steinbrück auch in der Krise verteidigen. Deshalb war er vehement gegen niedrigere Steuern und skeptisch gegenüber Ausgabenprogrammen. Und das hat er so in aller Deutlichkeit gesagt.
Im Dezember 2008 haben wir mit Steinbrück ein Interview geführt, das zu den denkwürdigsten meines Lebens gehört. Wir vom Spiegel traten in dem Gespräch für ein kräftiges Konjunkturprogramm ein. Wir saßen in Steinbrücks Büro, und nach fünf Minuten herrschte eine brodelnde Stimmung. Nach fünfzehn Minuten dachte ich, gleich wird Steinbrück meinen Kollegen Michael Sauga, der den Finanzminister unbeirrbar mit Argumentenfür ein Konjunkturprogramm traktierte, anfallen und würgen. Steinbrück dampfte wie eine Lok in voller Fahrt. Ich streute eine harmlose Frage ein, um ihn etwas zu beruhigen. Aber bald stand er wieder unter Volldampf. Wir haben das Interview knapp ohne offene Schreierei zu Ende gebracht.
Obwohl ich für ein kräftiges Konjunkturprogramm war, hat mir Steinbrück gut gefallen. Er hatte eine Haltung und hat sie beherzt vertreten. Es waren anderthalb Stunden, die den Gegenentwurf zu Merkels Kanzlerschaft zeigten, die Antithese: Festlegung, Kampf mit offenem Visier. Politik wirkt stark in solchen Momenten.
Doch schon im Januar musste Steinbrück all das vertreten, wogegen er sich gewehrt hatte. Die Große Koalition beschloss ein zweites Konjunkturprogramm, mit neuen Staatsausgaben und mit niedrigeren Steuern. Die Staatsschulden werden also wieder in die Höhe schießen, der Bundeshaushalt wird in absehbarer Zeit nicht ohne Defizit auskommen. Steinbrück wirkte sehr schwach, als er sagte, er habe nur so vehement gegen Staatsprogramme argumentiert, um eine noch höhere Neuverschuldung zu verhindern.
Solche Wechselbäder hat sich Angela Merkel erspart. Seit Leipzig weiß sie, dass es oft die starken Worte sind, die ein Politiker später fressen muss. Sie war zwar prinzipiell auf Steinbrücks Linie, hatte die aber leiser vertreten und sich Hintertürchen offen gehalten. Am Ende stand sie bei den Eingeknickten, aber halb verdeckt von Steinbrück.
Merkel hatte auch den zweiten Zeitpunkt, Führung zu zeigen, verstreichen lassen. Als im Spätherbst immer schlimmere Wirtschaftszahlen auf das Land prasselten, zeichnete sich bald ab, dass ein zweites Konkjunkturpaket unvermeidlich sein würde. Der öffentliche Druck wuchs, und in den Regierungsparteien CSU und SPD minus Steinbrück baute sich eine starke Stimmung für ein üppiges Staatsprogramm auf. Merkel blieb zurückhaltend.
Am Ende hatte sie nicht geführt, sondern war geführt worden. Die Kollegen Sarkozy und Brown trieben sie vor sich her, genauso Horst Seehofer, die meisten Experten sowie ein großer Teil der Öffentlichkeit. Am Ende versuchten ihre Spindoktoren das Ganze als große Strategie zu verkaufen. Es sei alles so gekommen wie von Merkel geplant. Das aber wirkte fast albern.
Merkel hat in jenen Monaten zudem
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