Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Ee
Vom Netzwerk:
ungeschickten Stichen zugenäht.
    Fast verliere ich den Kampf gegen meinen Magen, und all das reichhaltige Essen, das ich vorher zu mir genommen habe, kommt mir wieder hoch. Ich muss schwer schlucken, um es bei mir zu behalten. Mein Atem fühlt sich zu heiß und die Luft auf meiner prickelnden Haut zu kalt an.
    Ich will – ich muss – meine Augen schließen, um auszublenden, was sie sehen. Doch ich kann nicht. Ich suche. Meine Augen suchen jedes brutal zugerichtete Kind nach dem Feengesicht meiner Schwester ab. Ich beginne, am ganzen Körper zu zittern, und kann nicht mehr aufhören.
    »Paige.« Meine Stimme ist nur ein gebrochenes Flüstern.
    Ich kann ihren Namen kaum hauchen, doch ich sage ihn immer wieder, als würde dadurch auf irgendeine Art alles in Ordnung kommen. Wie in einem Albtraum drifte ich auf die geschundenen Körper zu, unfähig mich selbst aufzuhalten, unfähig wegzusehen.
    Bitte lass sie nicht hier sein. Bitte, bitte. Alles, nur das nicht.
    »Paige?« Entsetzen liegt in meiner Stimme und auch eine Spur Hoffnung, dass sie vielleicht nicht hier ist.
    Etwas in dem Haufen aus Körpern bewegt sich.
    Zittrig trete ich einen Schritt zurück. Alle Kraft weicht aus meinen Beinen.
    Ein kleiner Junge rollt ganz oben von einem Stapel und bleibt mit dem Gesicht nach unten liegen.
    Zwei Reihen weiter unten streckt sich mir eine blinde kleine Hand entgegen. Unbeholfen stützt sie sich auf die Schulter des heruntergefallenen kleinen Jungen. Die Körper über der Hand schwanken hin und her, schwanken immer heftiger, bis sie schließlich auf den kleinen Jungen herabstürzen.
    Endlich kann ich das Kind sehen, dem die tastende Hand gehört. Es ist ein kleines Mädchen mit unverhältnismäßig dünnen Beinen. Ein Vorhang aus braunem Haar verhüllt ihr Gesicht, während sie unter Schmerzen auf mich zugekrochen kommt.
    Sie hat einen schlimmen Schnitt am Gesäß. Er trifft mit einem anderen zusammen, der ihre Wirbelsäule entlangläuft. Breite, unebene Stiche führen ihre Wirbelsäule ent lang und halten ihr verletztes Fleisch zusammen. Nähte laufen über ihre Arme und Beine. Das Rot und Blau ihrer Schnitte und Blutergüsse steht in hartem Gegensatz zu ihrem leichenblassen Hautton.
    Ich bin erstarrt vor Entsetzen und sehne mich danach, die Augen zu schließen und so zu tun, als sei das alles nicht wahr. Doch ich bin unfähig, etwas anderes zu tun, als zuzusehen, wie sich das Mädchen voller Schmerzen über den Haufen Körper vorarbeitet. Sie robbt mit ihren Armen vorwärts, ihre Beine nichts als ein totes Gewicht, das sie hinter sich herschleift.
    Nach einer Ewigkeit hebt sie endlich den Kopf. Das strähnige Haar fällt ihr aus dem Gesicht.
    Und da ist meine kleine Schwester.
    Ihre gequälten Augen finden die meinen. Sie sind riesig in ihrem Feengesicht und füllen sich mit Tränen, als sie mich sehen.
    Ich falle auf die Knie, fühle kaum den Aufprall auf dem Beton.
    Von den Ohren bis zu den Lippen laufen Operationsnähte durch das Gesicht meiner kleinen Schwester, als hätte man den oberen Teil ihres Gesichts abgezogen und dann wieder zusammengesetzt. Es ist geschwollen und voller Blutergüsse, die in ärgerlichen Farben schillern.
    »Paige.« Meine Stimme bricht.
    Ich krieche auf sie zu und nehme sie in die Arme. Sie ist genauso kalt wie der Betonboden.
    Sie rollt sich in meiner Umarmung zusammen, wie sie es als kleines Kind immer getan hat. Ich versuche, ihren ganzen Körper auf meinem Schoß zu halten, obwohl sie dafür inzwischen zu groß ist. Auch ihr Atem in meinem Nacken ist kalt wie eine arktische Brise. Mir kommt der verrückte Gedanke, dass sie vielleicht alles Blut aus ihr herausgepumpt haben und sie nie wieder warm werden kann.
    Meine Tränen rinnen ihre Wangen hinab und vermischen unsere Pein.

38
    »Wie rührend«, sagt eine emotionslose Stimme hinter mir.
    Der Engel kommt mit einem so unbeteiligten Gesichtsausdruck auf uns zu, dass dahinter nichts Menschliches auszumachen ist. Es ist die Art Blick, die ein Hai wahr scheinlich zwei weinenden Mädchen zuwerfen würde. »Das ist das erste Mal, dass einer von euch versucht, ein- statt auszubrechen.«
    Hinter ihm tritt der Zulieferer mit einer weiteren Ladung Metallschubladen durch die Tür. Seine Miene ist durch und durch menschlich. Überraschung, Sorge, Furcht.
    Bevor ich antworten kann, schießt der Blick des Engels nach oben an die Decke, und er neigt den Kopf. Er erinnert mich an einen Hund, der etwas weit Entferntes hört, das nur Hunde wahrnehmen

Weitere Kostenlose Bücher