Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
können.
Ich drücke den dürren Körper meiner Schwester noch enger an mich, als könnte ich sie vor all diesen monströsen Dingen beschützen. Aber es übersteigt fast schon meine Kraft, meine Stimme zu benutzen, und sie klingt nicht besonders fest. »Warum tut ihr das?«, zwinge ich in einem Flüstern hervor.
Hinter dem Engel schüttelt der Zulieferer warnend den Kopf. Er wirkt, als wollte er hinter den Leichenschubladen schrumpfen.
»Ich muss einem Affen nichts erklären«, sagt der Engel. »Und jetzt leg das Exemplar wieder dorthin, wo es war.«
Das Exemplar?
Wut kocht in meinen Adern hoch, und meine Hand zittert vor Verlangen, ihm die Kehle zuzudrücken.
Erstaunlicherweise gelingt es mir, mich zu beherrschen.
Wütend starre ich ihn an, während ich gerne noch so viel mehr täte.
Doch das Ziel ist, meine Schwester hier rauszuschaffen und nicht, eine momentane Befriedigung zu erlangen. Ich hebe Paige hoch und laufe schwankend auf ihn zu.
»Wir gehen.« Sobald ich die Worte ausgesprochen habe, weiß ich, dass es sich um pures Wunschdenken handelt.
Er legt sein Klemmbrett ab und tritt zwischen uns und die Tür. »Mit wessen Erlaubnis?« Seine Stimme ist leise und bedrohlich. Durch und durch zuversichtlich.
Plötzlich neigt er wieder den Kopf, um auf etwas zu lauschen, das ich nicht hören kann. Ein Stirnrunzeln verunstaltet seine glatte Haut.
Ich atme zweimal tief ein und versuche, die Wut und die Furcht aus mir hinauszublasen. Sanft setze ich Paige unter einen Tisch.
Dann stürze ich mich auf ihn.
Mit aller Kraft, die ich nur aufbringen kann, schlage ich auf ihn ein. Keine Berechnung, kein Gedanke, kein Plan. Nur eine rasende, epische Wut.
Verglichen mit der Stärke eines Engels ist es nicht viel, doch der Überraschungseffekt ist auf meiner Seite.
Die Wucht meiner Schläge lässt ihn auf den Untersuchungstisch knallen, und ich frage mich, weshalb seine hohlen Knochen nicht brechen.
Mit Schwung ziehe ich das Engelsschwert aus der Scheide. Engel sind sehr viel stärker als Menschen, doch auf dem Boden können sie verwundbarer sein. Kein Engel, der gut fliegen kann, würde in einem Keller arbeiten, wo es keine Fenster gibt, durch die er ins Freie entkommen kann. Die Chancen stehen also gut, dass dieser hier nicht besonders schnell in die Lüfte steigt.
Bevor sich der Engel von seinem Sturz erholen kann, stoße ich mein Schwert in seine Richtung und ziele auf seinen Hals.
Oder zumindest versuche ich das.
Aber er ist schneller, als ich dachte. Er packt mein Handgelenk und donnert es gegen die Tischkante.
Der Schmerz ist unerträglich. Meine Hand öffnet sich und lässt das Schwert fallen. Es schlittert über den Betonboden, weit außerhalb meiner Reichweite.
Mit Muße steht er auf, während ich mir ein Skalpell von einem Tablett klaue. Das Skalpell fühlt sich schwach und nutzlos an. Meine Chancen, gegen ihn zu gewinnen oder ihn auch nur zu verletzen, sind vermutlich sehr gering, wenn nicht gleich null.
Das macht mich nur noch wütender.
Ich werfe das Skalpell nach ihm. Es streift seinen Hals und lässt Blut daraus hervorsprudeln, das seinen weißen Kittel befleckt.
Als Nächstes schnappe ich mir einen Stuhl und werfe ihn auf den Engel, bevor er sich erholen kann.
Bevor ich überhaupt merke, dass er auf mich zugerannt kommt, hat er mich auch schon auf den Betonboden geworfen und würgt alles Leben aus mir heraus. Er drückt mir nicht nur die Luft ab, er unterbindet auch den Bluttransport zu meinem Gehirn.
Fünf Sekunden. Mehr habe ich nicht, wenn kein Blut in mein Gehirn fließt.
Wie ein Keil fahren meine Arme zwischen seine. Dann stoße ich sie nach außen gegen seine Unterarme.
Das hätte eigentlich reichen müssen, um mich aus seinem Würgegriff zu befreien. Im Training hat es immer funktioniert.
Doch sein Griff lockert sich kein bisschen. In meiner Panik habe ich seine Superkräfte nicht mit einkalkuliert.
In einem letzten, verzweifelten Versuch presse ich meine Hände gegeneinander und verschränke die Finger. Ich hole Schwung und hämmere so fest ich kann in seine Arm beuge.
Sein Ellbogen zuckt zurück.
Doch dann ist er wieder genau da, wo er war.
Die Zeit ist abgelaufen.
Wie ein Anfänger schlage ich meine Fingernägel in seine Hände. Doch genauso gut könnte es Stahl sein, der sich um meinen Hals gelegt hat.
Mein Herz pocht donnernd und immer panischer in meinen Ohren. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er fortschweben.
Das Gesicht des Engels ist kalt und gleichgültig.
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