Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
ihrem austrocknenden Fleisch ist faltig, als würden alle Flüssigkeiten aus ihr herausgesaugt.
Jemand hat ihr eine Sauerstoffmaske auf Mund und Nase gestülpt. Die schwarzen Schläuche der Maske reichen bis zum Deckel des Behälters und sehen aus wie eine verdrehte Nabelschnur. Das Einzige, was sich an ihr bewegt, ist ihr dunkles Haar. Ätherisch schwebt es um die Kabel und den Stachel.
Ich erkenne sie, trotz der Maske. Es ist die Frau, deren Mann und Kinder ihr am Zaun zum Abschied zugewinkt haben, als sie in den Horst gekommen ist. Die Frau, die sich umgedreht und ihrer Familie einen Luftkuss zugeworfen hat. Seit ich sie vor ein paar Stunden zum letzten Mal gesehen habe, sieht sie aus, als sei sie um zwanzig Jahre gealtert. Ihr Gesicht ist bleich, die Haut hängt lose über ihren Knochen. Sie hat abgenommen. Sehr stark abgenommen.
Unter ihren in der Flüssigkeit schwebenden Füßen befindet sich ein Häufchen von einer weggeworfenen hellen Substanz, die ich erst jetzt als Haut und Knochen identifiziere. Was ich zunächst irrtümlich für Seetang gehalten habe, ist in Wirklichkeit Haar, das sich unten am Grund in sanften Wellen bewegt.
Dieses Monster verflüssigt ihre Eingeweide und trinkt sie.
Meine Füße bewegen sich nicht. Ich stehe einfach nur da wie ein Beutetier, das auf seinen Jäger wartet. Jeder meiner Instinkte schreit mir zu, wegzulaufen.
Genau in dem Moment, in dem ich denke, dass es nicht mehr schlimmer werden kann, sehe ich ihre Augen. Sie sehen angestrengt und unnatürlich aus in ihren zu großen Höhlen. Kurz meine ich, einen Funken Verzweiflung und Schmerz in ihnen zu sehen. Ich hoffe, sie ist wenigstens schnell und ohne allzu große Schmerzen gestorben, aber ich bezweifle es.
Als ich mich gerade abwenden will, entweicht ihrer Sauerstoffmaske ein Schwarm Luftblasen, der an ihren Haaren vorbeischwebt.
Ich erstarre. Sie kann doch unmöglich noch leben, oder?
Doch warum sollte ihr jemand eine Sauerstoffmaske überziehen, wenn sie tot ist?
Ich warte und suche nach einem weiteren Lebenszeichen. Doch die einzige Bewegung, die ich wahrnehme, ist die des Skorpions, der sie aussaugt. Ihre einst straffe Haut verschrumpelt förmlich vor meinen Augen. Jedes Mal, wenn sich der Skorpion bewegt, tanzt ihr Haar in kleinen Wellen.
Dann steigt ein weiteres Grüppchen Luftblasen aus ihrer Maske auf.
Sie atmet. Extrem und fast unmöglich langsam, aber sie atmet noch.
Ich reiße mich von ihrem Anblick los und zwinge mich, den Raum nach etwas abzusuchen, womit ich sie aus dem Behälter herausbekomme. Hier und da sehe ich jetzt andere Säulen, in denen ebenfalls Menschen eingeschlossen sind. Sie befinden sich in allen erdenklichen Stadien der tödlichen Umarmung. Einige wirken noch vital und frisch, andere dagegen ausgesaugt und fast leer.
Einer der Skorpione hat eine frische Frau in einem Partykleid im Arm und küsst sie auf den Mund, während die Sauerstoffmaske über ihr schwebt. Ein Mann in Hoteluniform ist ebenfalls in den Fängen einer der Bestien, die ihren Mund auf sein Auge gepresst hat.
Es ist keine systematische Fütterung. Am Grund einiger Behälter liegt ein großer Haufen, in anderen hingegen nur ein kleiner. Auch die Skorpionengel sehen unterschiedlich aus. Ein paar von ihnen sind groß und muskulös, andere schwächlich und deformiert.
Während ich einfach nur fassungslos dastehe und mich krank fühle, geht auf der anderen Seite des Kellers eine Tür auf. Ich höre, wie etwas über den Betonboden rollt.
Mein unmittelbarer Impuls ist, mich hinter einem der Behälter zu verstecken, doch ich kann mich nicht überwinden, ihnen auch nur nahe zu kommen. Also stehe ich inmitten des Rasters aus gläsernen Säulen und versuche zu entschlüsseln, was auf der anderen Seite vor sich geht. Der Versuch, den Raum durch die Glassäulen zu erkennen, ist ungefähr so aussichtslos, als würde man einen Zettel auf der anderen Seite eines Haifischbeckens lesen wollen. Alles ist bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.
Aber wenn ich die Engel nicht sehen kann, sollten sie mich auch nicht sehen. Ich schleiche um eine der Säulen herum und bekomme eine andere Perspektive auf das Zimmer. Ich wappne mich gegen den Anblick der Opfer, den ich unter allen Umständen ignorieren muss. Wenn ich geschnappt werde, bin ich zu nichts mehr nütze.
Auf der anderen Seite des Säulenrasters beschimpft ein Engel einen Menschen. »Die Schubladen hätten schon letzte Woche geliefert werden sollen!« Er trägt einen weißen
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