Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
fürs Mittagessen. Ich will Raffe gerade holen, als eine Frau mit honigblondem Haar und langen Beinen auf ihn zuschlendert. Alles an ihr, die Stimme, die Art, wie sie sich bewegt und wie sie den Kopf neigt, wirkt einladend auf einen Mann. Ich ändere die Richtung, schlendere zur Kantine und tue so, als würde ich nicht merken, dass sie gemeinsam zum Mittagessen gehen.
Ich nehme mir eine Schüssel Hirschgulasch und einen Kanten Brot und schlinge beides so schnell ich kann hinunter. Einige Leute um mich herum beschweren sich murrend darüber, immer wieder das gleiche alte Zeug essen zu müssen, doch ich habe genug getrocknete Nudeln und Katzenfutter gegessen, um den Geschmack von frischem Fleisch und Dosengemüse wirklich wertschätzen zu können.
Von meiner morgendlichen Tratsch-Session weiß ich, dass ein Teil des Essens aus Plünderungen der benachbarten Häuser stammt, das meiste jedoch aus einer Lagerhalle, deren Standort der Widerstand geheim hält. Sieht aus, als würde die Bewegung gut für ihre Leute sorgen.
Sobald ich mit dem Essen fertig bin, halte ich nach Obi Ausschau. Schon den ganzen Tag lang will ich ihn anflehen, uns gehen zu lassen. Bei Licht betrachtet wirken diese Leute hier alle gar nicht mehr so furchtbar schlimm, und vielleicht haben sie ja Verständnis für meinen Drang, meine Schwester zu retten. Natürlich werde ich Raffe nicht davon abhalten können, dem Feind von dem Camp zu erzählen, aber er wird bestimmt niemanden darüber unterrichten, bevor wir den Horst erreicht haben. Und bis dahin ist das Camp vielleicht schon weitergezogen. Eine recht dürftige Rechtfertigung, ich weiß, aber sie wird reichen müssen.
Als ich Obi finde, ist er von Männern umringt, die behutsam Holzkisten aus der Vorratskammer tragen, in die ich letzte Nacht fast einen Blick geworfen hätte. Zwei der Männer laden die Kisten vorsichtig auf einen Lkw.
Als einer versehentlich eine Ecke der Kiste loslässt, erstarren die Männer.
Einige Herzschläge lang starren sie ihn allesamt an. Ich kann ihre Angst förmlich riechen.
Sie werfen sich gegenseitig Blicke zu, wie um sich zu bestätigen, dass sie tatsächlich noch hier sind. Schließlich nehmen sie ihren seitwärts gerichteten Krebsgang Richtung Lkw wieder auf.
Ich schätze mal, das, was da in der Kammer gelagert wird, hat dann doch etwas mehr Sprengkraft als Wildfleisch und Pistolen.
Ich versuche, zu Obi vorzudringen, um mit ihm zu sprechen, doch eine breite Brust im Tarnanzug stellt sich mir in den Weg. Als ich aufblicke, starrt Boden, die Wache, die uns letzte Nacht erwischt hat, auf mich herunter.
»Geh wieder zurück zu deiner Wäsche, Weib.«
»Willst du mich verarschen? Welchem Jahrhundert bist du denn entsprungen?«
»Diesem Jahrhundert. Das hier ist eine neue Realität, meine Süße. Sieh das lieber ein, bevor ich es dir mit Gewalt eintrichtere.« Seine Augen wandern vielsagend zu meinem Mund. »Es dir tief und leidenschaftlich eintrichtere.«
Ich kann seine Begierde und die Gewaltbereitschaft förmlich riechen.
Ich spüre einen ängstlichen Stich in der Brust. »Ich muss mit Obi sprechen.«
»Ja, du und jede andere Schnecke in diesem Camp. Ich hab deinen Obi genau hier.« Er greift sich zwischen die Beine und ruckelt an seinem Schwanz herum, als würde er ihm die Hand geben. Dann macht er obszöne Zungenbewegungen und kommt dabei so nah an mein Gesicht heran, dass ich ein paar Spucketropfen abbekomme.
Jetzt spüre ich den Angststich in der Lunge, alle Luft scheint aus mir herauszuströmen, doch der Ärger, der mich überflutet, ist wie ein Tsunami, der von jeder Zelle meines Körpers Besitz ergreift.
Er ist die Verkörperung all dessen, was mich von Auto zu Auto hat kriechen lassen, mich beim leisesten Geräusch hat erstarren und durch die Schatten hat huschen lassen wie ein Tier, verzweifelt vor lauter Angst, dass jemand mich, meine Schwester oder meine Mutter erwischt. Hier, direkt vor mir, steht jemand, der größer und stärker ist als ich, genau wie diejenigen, die die Dreistigkeit hatten, meine Schwester zu kidnappen, ein hilfloses, liebes kleines Mädchen. Hier vor mir steht jemand, der sich ihrer Rettung buchstäblich in den Weg stellt.
»Was hast du da gerade gesagt?« Das Mädchen in mir, das früher mal höflich und zivilisiert gewesen ist, muss ihm einfach eine zweite Chance geben.
»Ich sagte …«
Ich ramme ihm den Handballen in die Nase. Die Kraft kommt nicht nur aus meinem Arm, sondern den ganzen Weg aus meiner Hüfte
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