Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
sich von ihr fernzuhalten, wenn sie den Zaun abgeht. Hier ist es für sie sicherer. Für uns alle ist es sicherer, wenn sie hierbleibt. Fürs Erste zumindest.
Meine Rechtfertigungen können mein Schuldgefühl nicht besänftigen, aber mir fällt keine bessere Lösung ein.
Ich reiße mich vom Anblick meiner Mutter los und versuche, mich auf die Umgebung zu konzentrieren. Wenn ich am Leben bleiben will, darf ich mich nicht ablenken lassen.
Ein Muster beginnt sich in der Menge vor mir abzuzeichnen. Frauen und Mädchen im Teenageralter drängen sich um die Leute, die vor ihnen stehen, in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit der Wachen auf sich zu lenken. Sie sind rausgeputzt und so gut zurechtgemacht, wie ihre Mittel es zulassen. Viele Mädchen sind von Menschen umringt, die wie ihre Eltern oder Großeltern aussehen. Die Frauen stehen oft neben ihren Männern, manchmal sind auch Kinder dabei.
Die Wachen schütteln die Köpfe und weisen nahezu jeden ab, der um Einlass bittet. Hin und wieder weigert sich eine Zurückgewiesene oder eine ganze Gruppe von ihnen, den Weg freizumachen. Stattdessen betteln sie oder brechen weinend zusammen. Die Engel scheint das überhaupt nicht zu kümmern, doch die Menge kümmert es durchaus. Die Menschen ziehen die aufmüpfigen Aussortierten zurück in den Mob und schubsen sie so lange gedankenlos durch die sich bewegende Masse an Körpern, bis sie auf der anderen Seite der Menge wieder ausgespuckt werden.
Gelegentlich lassen die Wachen jemanden durch. Soweit ich erkennen kann, handelt es sich dabei immer um Frauen. Während wir Zentimeter für Zentimeter vorrücken, werden zwei weitere eingelassen.
Beide Frauen tragen enge Kleider und hohe Absätze, genau wie ich. Eine von ihnen tritt, ohne einen Blick zurückzuwerfen, ein und klackert selbstbewusst die leere Straße hinunter zur anderen Seite des Tors. Die andere passiert den Checkpoint nur zögernd, dreht sich immer wieder um und wirft einem Mann und zwei schmuddelig aussehenden Kindern, die die Kettengelenke des Zauns umklammert halten, Luftküsse zu. Ihre Familie entfernt sich eilig, als ein Mann mit einem Viehtreiber auf sie zukommt.
Als die Frauen durchgelassen werden, wechseln ein paar Gegenstände am Rand der Menge ihre Besitzer. Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, dass das Grüppchen Wetten darüber abgeschlossen hat, wer eingelassen wird. Ein Buchmacher deutet auf ein paar Frauen neben den Wachen und nimmt dann alle möglichen Gegenstände von den Leuten um sich herum entgegen. Bei den meisten handelt es sich um Männer, doch es sind auch ein paar Frauen dabei. Jedes Mal, wenn eine Frau durchgewinkt wird, dreht sich einer aus der Gruppe um und spaziert mit einem Armvoll Sachen davon.
Ich will fragen, was hier los ist, wieso die Menschen so wild darauf sind, sich auf Engelsterritorium zu begeben, und weshalb diese Leute hier draußen campen. Aber das würde Raffe nur beweisen, dass ich mich wirklich wie ein kleines Mädchen aufführe, also schlucke ich meinen Schwall an Fragen hinunter und stelle stattdessen eine, die für unsere Operation relevant ist:
»Was, wenn sie uns nicht durchlassen?« Ich versuche, die Lippen nicht zu bewegen.
»Das werden sie«, tönt es aus den dunklen Tiefen des rückwärtigen Fußraums.
»Woher willst du das wissen?«
»Weil du so aussiehst, wie sie es wollen.«
»Wie denn?«
»Schön.« Seine Stimme steigt wie eine Liebkosung aus den Schatten auf.
Noch nie hat mir jemand gesagt, dass ich schön bin. Ich war immer zu beschäftigt, mit meiner Mutter klarzukommen und auf Paige aufzupassen, als dass ich mich groß um mein Aussehen hätte kümmern können. Hitze rötet meine Wangen. Ich hoffe, ich sehe nicht wie ein Clown aus, wenn ich am Checkpoint ankomme. Wenn Raffe recht hat und dies der einzige Weg ist, um da reinzugelangen, und wenn ich Paige wiedersehen will, muss ich so hübsch wie möglich sein. Als ich zum Anfang der chaotischen Schlange vorrücke, haben sich gerade mehrere Frauen den Wachen an den Hals geworfen. Keine von ihnen wird eingelassen. Angesichts meines fettigen Haars beruhigt mich das nicht unbedingt. Ich fahre zu den Wachen vor.
Gelangweilt mustern sie mich. Sie sind zu zweit. Verglichen mit Raffe sehen ihre gesprenkelten Flügel klein und welk aus. Das Gesicht des einen Wachmanns ist genauso hellgrün gesprenkelt wie seine Flügel. Gescheckt fällt einem spontan ein, wie bei einem Pferd. In dieses Gesicht zu schauen erinnert mich schmerzhaft daran, dass Raffe kein
Weitere Kostenlose Bücher