Angelglass (German Edition)
erringen. Ich verstehe ganz sicher nicht, was eben hier geschehen ist, aber ich weiß genau, was die Karten mir sagen: Es gibt nur einen Weg, den Kreislauf zu durchbrechen. Ihr müsst die Unschuldigen retten.«
Er lässt seinen Kopf hängen und fügt nichts mehr hinzu. Ich stehe auf und gehe aus dem Zelt, bleibe aber am Eingang noch einmal stehen und drehe mich zu ihm um. Er ist ein gebrochener Mann. »Rettet die Unschuldigen, Sir«, sagt er mit schwacher Stimme. »Rettet die Unschuldigen.«
Hannah besteht darauf, mir in einer Schenke nahe des Altstädter Rings einen Krug Bier zu kaufen, bevor wir das Getto betreten. »Ihr seht furchtbar aus«, sagt sie und reicht mir den kühlen Gerstensaft. Durstig kippe ich ihn in mich hinein. »Was ist da drinnen geschehen?«
Ich erzähle es ihr, weil ich von Intrigen und Misstrauen nichts mehr wissen will. Ich erzähle es ihr, weil ich anfangen muss, einem Menschen zu vertrauen. Ich erzähle ihr alles.
Als ich mit meiner Geschichte fertig bin, sieht sie mich mit großen Augen an und wirkt lebhafter als je zuvor.
»Aber was hat das alles zu bedeuten? Wer sind die Unschuldigen? Wovor müssen sie beschützt werden?«
»Ich wünschte, ich wüsste es«, erwidere ich und lege den Kopf in die Hände. »Ich bin jetzt noch verwirrter als ich es war, bevor ich das Zelt betreten habe. Ich wünschte, ich wäre dem Wahrsager Ripellino nie begegnet.«
Hannah trinkt den Rest ihres Kräuterlikörs. »Wir sollten jetzt gehen. Wir müssen den Rabbi finden und zum Schloss zurückkehren, bevor wir vermisst werden. Der Kammerherr schien mir sehr misstrauisch.«
Wir verlassen die Schenke. Hannah führt mich um eine Ecke, wo wir auf große Mauern stoßen, die sich uns in den Weg stellen. »Das Getto«, sagt sie und zieht mich durch ein großes, eingerostetes Tor.
Außerhalb der geheiligten Mauern des Schlosses ist Prag weiß Gott eine schmutzige Stadt, doch ich bin völlig sprachlos angesichts des Elends, das sich hinter den Mauern zum Getto offenbart. Als ich das erste Mal eine Ratte über die Straße springen sehe, weiche ich unwillkürlich zurück. Doch nachdem wir fünf oder zehn Minuten gelaufen sind, habe ich mich so an das Geziefer gewöhnt, das zwischen den fensterlosen und scheinbar willkürlich übereinandergestapelten Bruchbuden hin und her flitzt, dass ich es ignoriere.
»Willkommen im jüdischen Viertel«, sagt Hannah ironisch. »Hübsch, nicht wahr?«
»Wohnst du hier?«, frage ich schockiert.
Hannah nickt. »Das muss ich. Wir alle müssen hier wohnen. Schon seit Generationen sind wir Verfolgung und Hass ausgesetzt, aber wir schlagen uns durch. Wenn wir unseren Kopf gesenkt halten und uns um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern, lässt man uns meist in Ruhe. Mal abgesehen von Idioten wie diesen Brückenwächtern. Und natürlich nur, wenn wir schön unsichtbar in unserem Elendsviertel bleiben.«
Als wir immer weiter in diese Schande namens Getto hineingehen, fällt mir auf, dass Jakobs Tochter sich verändert. Hat sie sich im Schloss und der Stadt unterwürfig und anonym verhalten, ist sie hier umso selbstsicherer und lebendiger. Und schöner. Sie grüßt Leute auf der Straße, wirft ein paar verdreckten und im Unrat herumtollenden Kindern Münzen hin und winkt Ladenbesitzern zu, die in türlosen Korridoren stehen, hinter denen sich der Dreck türmt. Als wir ein Stück weitergehen, zeigt sie auf ein verblasstes Mauerbild, das einen dichten Wald darstellt.
»Die einzigen Bäume im Getto«, sagt sie. »Wie Ihr seht, haben wir durchaus Sinn für Humor.«
»Wo ist der Rabbi Löw?«, frage ich mit leiser Stimme.
Sie lacht, und ich höre zum ersten Mal, dass sie ein solches Geräusch von sich gibt. »Wir müssen hier nicht flüstern, Poutnik«, sagt sie. Ich bemerke, dass sie die übliche Anrede und den »Meister« fallen gelassen hat, sage jedoch nichts dazu. »Und zur Frage, wo der Rabbi ist …«
Sie bleibt stehen. Ich blicke nach vorn. Verglichen mit den armseligen Hütten der dicht besiedelten Gassen ist das Gebäude, vor dem wir jetzt stehen, ein regelrechter Palast. Es ist groß und über der Tür mit aus Holz geschnitzten Feigenbäumen verziert. Der Grund und Boden, auf dem es steht, ist weitaus geräumiger als alles, was ich bisher im Getto gesehen habe.
»Wir nennen sie die Alt-Neu-Synagoge«, sagt Hannah. »Der Rabbi müsste anwesend sein. Warte hier, ich sehe schnell nach.«
Wenige Augenblicke später tritt Hannah wieder aus der Synagoge hervor. »Er ist
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