Angelglass (German Edition)
hält ihm eine Münze hin, die er mit einer für einen Blinden erstaunlichen Geschicklichkeit an sich reißt. »Ich will nur schnell nachsehen, ob sich der Große Ripellino wieder in denselben Gefilden bewegt wie wir, um es mal so auszudrücken.«
Als er im Zelt verschwindet, drehe ich mich zu Hannah. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich sollte mich besser meiner Mission widmen …«
»Es wird nur ein paar Minuten dauern«, versichert sie mir. »Das Getto ist bloß ein oder zwei Straßen entfernt.«
Der Bucklige taucht wieder auf. »Der Meister wird Euch jetzt empfangen, mein Herr. Macht Euch um die junge Dame keine Sorgen. Ich werde mich ihrer solange annehmen.«
Achselzuckend schiebe ich die Zeltklappen beiseite und trete in die von schwachem Kerzenlicht erhellte Dunkelheit. Die Luft ist von Düften erfüllt. Ripellino sitzt hinter einem Tisch, der von einem blauen, mit goldenen Monden und Sternen geschmückten Tuch bedeckt ist. Der Wahrsager ist dünn und blass, trägt einen Spitzbart und hat kurz geschnittenes schwarzes Haar. Als er mich anblickt, scheinen seine Augen unter den dichten Brauen zu tanzen.
»Willkommen«, sagt er mit erhabener Stimme und deutet auf einen Stuhl. »Bitte nehmt Platz.«
Ich setze mich. Zu seiner Linken liegt eine Kristallkugel auf dem Tisch. Rechts von ihm befindet sich ein in Seide eingeschlagenes Päckchen, das von einer Schnur zusammengehalten wird. Als ich es mir bequem mache, flackern die Kerzen kurz auf und beruhigen sich wieder.
»Nun«, sagt er. »Was darf es sein? Soll ich Euch die Hand lesen? Die Karten legen? Die Runen auswerfen? Was wünscht Ihr zu wissen?«
»Wer ich bin«, sage ich ganz einfach.
Ripellino nickt und legt die Hände auf das Seidenpäckchen zu seiner Rechten. »Dann also die Karten. Zu Beginn ein einfaches Drei-Karten-Orakel mit den großen Arkana.«
Der Wahrsager wickelt die Karten aus und berührt sie zärtlich. »Ich bin Italiener«, sagt er wie um Konversation bemüht und mischt die Karten. »Wir Italiener haben das Tarot schon vor hundert Jahren perfektioniert. Es wird zwar gesagt, dass diese Kunst bereits zur Zeit der alten Ägypter ihren Anfang nahm, und ein paar Kartenspiele wurden sogar bei chinesischen und indischen Händlern gesehen, aber die Karten, die wir hier benutzen, wurden in Italien erdacht.«
Geschickt breitet Ripellino die Karten wie einen Fächer auf dem Tisch aus. »Wählt drei aus«, instruiert er mich. »Lasst Euch Zeit. Nehmt nur die Karten, die Euch ansprechen und sich richtig anfühlen.«
Meine Hand schwebt über den ausgebreiteten Karten, und nach einer Weile entscheide ich mich für drei von ihnen. Mit einer fließenden Bewegung nimmt Ripellino die restlichen Karten auf und legt sie beiseite. Dann legt er die drei ausgewählten Karten mit der Rückseite nach oben auf den Tisch.
»Die erste Karte ist Eure Vergangenheit«, sagt er. »Lasst uns sehen, was Euch hierhergebracht hat.«
Er dreht die Karte um. Das farbenfrohe Bild zeigt einen Mann auf einem Thron sitzend; in der einen Hand hält er einen Reichsapfel, in der anderen ein Zepter. Die Karte ist mit der römischen Ziffer IV beschriftet. Ripellino zieht eine Augenbraue hoch. »Der Herrscher, mit dem Kopf nach unten. Der Herrscher repräsentiert die höchste Autorität und absolute Macht. Er ist eine Vaterfigur, seine Führung ist von Logik und nicht von Emotionen geprägt. Seid Ihr vielleicht unterdrückt worden? Ein Opfer tyrannischen Verhaltens?«
Er dreht die zweite Karte um. »Eure Gegenwart«, erklärt er. Es ist die Nummer V . Ein Priester in einem langen Gewand, der einen Stab hält. »Der Hierophant, ebenfalls verkehrt herum. Er ist ein Symbol der religiösen Macht, der Obrigkeit, der Ordnung. Mit dem Kopf nach oben steht er für Freiheit und Wahrheit, doch verkehrt herum, so wie hier, deutet er auf Lügen und Verfälschungen hin. Bestimmte Informationen werden Euch vorenthalten. Ihr seid eingeschränkt. Es gibt unehrliche Menschen um Euch, die Euch zu ihrem eigenen Vorteil missbrauchen. Nehmt Euch vor ihnen in Acht.«
Ripellino wendet sich der letzten Karte zu. »Die Zukunft«, sagt er. »Das, was kommen wird oder auch vielleicht nur kommen mag.«
Er dreht sie um. Die Karte bedarf keiner Erklärung.
»Der Teufel«, stoße ich hervor.
»Und wieder verkehrt herum«, sagt Ripellino und sieht mich neugierig an. Einen Augenblick denkt er nach. »Die Nummer dieser Karte ist XV und sie repräsentiert einen Konflikt der Gegensätze. Liegt die
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