Angelglass (German Edition)
durch zwei oder drei dunkle Gassen gezogen habe und mir dabei nicht einmal über die eingeschlagene Richtung im Klaren bin, bleibe ich schließlich atemlos stehen. »Was … genau ist gerade geschehen, Meister Poutnik?«, fragt sie ohne den geringsten Anflug von Verärgerung oder Sarkasmus.
»Ich muss gestehen, dass ich das nicht weiß, Hannah«, erwidere ich und schnappe nach Luft.
»So habe ich die Landsknechte noch nie erlebt«, sagt sie ruhig. »Sie hatten furchtbare Angst vor Euch. Der Soldat, der Euch in die Augen gesehen hat … Er war vollkommen versteinert. Was hat er in Euch gesehen?«
Sie blickt mir jetzt selbst in die Augen, doch was immer die Söldner hat erstarren lassen, ist offensichtlich nicht mehr vorhanden. »Weswegen haben sie uns überhaupt angehalten?«, frage ich.
Hannah breitet die Arme aus. »Weil ich eine Jüdin bin. Und weil sie dachten, dass Ihr auch Jude seid.« Sie betrachtet wieder mein Gesicht. »Seid Ihr es?«
Wir laufen weiter, doch diesmal geht Hannah voraus. »Ich weiß es nicht. Du hast die Geschichte doch bestimmt schon gehört …«
»… in einem Graben gefunden, ohne Erinnerung, ein vom Himmel gefallener Findling«, sagt Hannah. »Ich dachte, es sei bloß eine der üblichen Fantasien des Kaisers. Aber was macht Ihr hier wirklich?«
»Ich weiß es nicht. Alles ist wahr. Zumindest, dass ich in einem Graben gefunden wurde. Doch was davor geschah … dazu kann ich nichts sagen.«
Die Straße führt uns auf einen weiteren belebten Platz, der von Verkaufsständen und Buden gesäumt und von einer schwarzen Kirche mit zwei Türmen überragt wird. »Der Altstädter Ring«, sagt Hannah. »Das ist die Teynkirche. Hier kann man alles kaufen.«
Ich gehe einen Schritt weiter und nehme die Eindrücke in mich auf. Ich bin schier überwältigt von der lebhaften Menschenmenge, die überall um mich herumwuselt. Alle schreien und lachen und zanken und werben, bieten Kinkerlitzchen feil, stopfen Essen in sich hinein oder ziehen anderen das Geld aus der Tasche. Es kommt mir fast vor, als wäre ich mit jedem einzelnen Menschen verbunden, jedem Priester, jedem Taschendieb, jedem Kind, jeder Magd. Verbunden und doch getrennt; ein aufmerksamer Zeuge ihres Daseins, und doch unfähig, mich gänzlich in sie hineinzuversetzen.
Hannah gesellt sich zu mir und nimmt meinen Arm. Mit leicht schräg gelegtem Kopf sieht sie mich an. »Hier gibt es Wahrsager und Seher«, sagt sie. »Die Mädchen aus der Schlossküche kommen andauernd hierher, um sich die Hand lesen und die Zukunft voraussagen zu lassen. Mir ist es verboten, sie aufzusuchen … aber Ihr …«
Ich blicke in ihre grünen Augen. »Aber ich …?«
»Vielleicht können sie Euch helfen. Vielleicht können sie die Vergangenheit genauso gut erkennen wie die Zukunft.«
Ich betrachte die Buden und Zelte, die den Platz umgeben. »Aber hier gibt es so viele. Woher können wir wissen, dass wir unser Geld nicht an einen Scharlatan vergeuden? Und da wir gerade davon sprechen – ich habe gar kein Geld.«
»Ich habe ein paar Kronen«, sagt Hannah. »Und die Mädchen aus der Küche loben den Wahrsager Ripellino in höchsten Tönen.«
Ripellino ist leicht zu finden. Ein grellbunt angemalter Tisch steht vor einem blau-rot gestreiften Zelt am südlichen Rand des Platzes. Davor sitzt ein gedrungener Mann in Handwerkerkluft, dessen Nase offenbar durch ein paar Kneipenschlägereien in Mitleidenschaft gezogen wurde. Langsam nähern wir uns. »Das wird doch wohl nicht …«, flüstere ich Hannah zu.
Offensichtlich habe ich nicht leise genug geflüstert, denn der Mann erhebt sich. Sein Rückgrat ist schrecklich verkrümmt, und er blickt uns mit blinden Augen an. »Der große Ripellino? Ich, mein Herr? Nein, nein, keineswegs. Welch abwegiger Gedanke! Er ist drinnen im Zelt und spricht mit den Geistern. Ich bin bloß sein Gehilfe. Möchtet Ihr den Meister konsultieren?«
Ich blicke zweifelnd zu Hannah. Sie schiebt mich weiter. »Ja, ja. Das möchte er«, sagt sie. »Was kostet es?«
Der bucklige Kerl scheint uns mit seinen milchig weißen, nutzlosen Augen abzuschätzen. »Eine halbe Krone, mein Kind. Zahlbar im Voraus. Ihr müsst wissen, dass manche Leute die schlechten Nachrichten nicht mögen und sich dann weigern, zu bezahlen. Ich habe den Großen Ripellino schon gefragt ›Wollt Ihr dann nicht aufhören, ihnen schlechte Nachrichten zu präsentieren?‹, aber nein, hört er etwa auf mich? Nein, er besteht darauf, alles so zu sagen, wie es ist.«
Hannah
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