Angelglass (German Edition)
und bildet ein Ganzes.
»…«
Jenny hat etwas gesagt, aber ich habe nicht länger das Gefühl, mich in dem kleinen, dunklen Zimmer zu befinden. Obwohl meine Augen geschlossen sind, beginne ich zu sehen. Die Geister, die mich auf meinen nächtlichen Streifzügen begleiten, erlauben mir nun, mit ihren Augen zu sehen.
Was sie sehen, ist der Tod.
In einem Pariser Bordell feuern gestiefelte Soldaten in stahlgrauen Uniformen ein paar Schüsse auf verängstigte Frauen ab, während ich nur zusehen und schreien kann; ein vierzehnjähriges Mädchen, das ich hierhergebracht habe – in ihr Verhängnis –, zuckt zusammen, als die Kugeln sie durchbohren und ihr das Blut aus dem Mund strömt.
Unter der sengenden Sonne werden Sklaven, die meiner stummen Aufforderung nachgekommen sind und sich geweigert haben, einen weiteren riesigen Sandsteinblock zur Vollendung einer gewaltigen Pyramide anzuheben, von dunkelhäutigen Schwertkämpfern gnadenlos niedergemetzelt; ein gutgläubiger Mann, der meinen überschwänglichen Behauptungen, es würde sich lohnen für die Freiheit zu sterben, geglaubt hat, blickt mich mit stumpfen, anklagenden Augen an, als das Lebenslicht in seinem Innern flackert und verlischt.
Ein verängstigter Junge – weit entfernt von dem Bauernhof, wo er geboren wurde und mit seinen vier Brüdern und drei Schwestern aufgewachsen ist – weint, als er den Lauf seines Gewehres in den Mund steckt, mich mit tränenverhangenen Augen ansieht, sie dann fest zusammenkneift und sich den Hinterkopf wegschießt. Er fällt neben seinen dahingemetzelten Kameraden zu Boden, während feindliche Guerillatruppen aus der Deckung des feucht dampfenden Dschungels heraustreten und die unerwartete Selbstopferung amüsiert zur Kenntnis nehmen.
In den Ruinen einer einstmals großen Stadt stirbt ein Mann, der in mir den Retter seiner sterbenden Rasse gesehen hat, unter den brutalen Schlägen einer barbarischen Horde, während ich mich inmitten der Asche einiger Kinder, die schon vor langer Zeit in diesem ultimativen Krieg getötet wurden, im verrosteten Skelett eines ehemaligen Schulbusses verstecke.
Alles ist vom Tod gezeichnet. Alles ist meine Schuld.
»Pooty?«
Wie ein gespanntes Gummiband sucht sich mein Bewusstsein den Weg zurück in meinen Körper. Jenny ist zu mir herübergekrochen, hat mir eine Hand auf die Schulter gelegt und blickt mich besorgt an. »Bist du okay?«
Ich schüttele meine Visionen ab. »Jenny …«
»Hast du etwas gesehen? Kannst du dich an etwas erinnern?«
Mein Bewusstsein ist von Bildern überschwemmt; dann schließen die Geister plötzlich ihre Augen und sind verschwunden. Frustriert hämmere ich mit der Faust auf den Boden. »Ich konnte sehen …«, sage ich völlig hilflos.
Jenny hat ein Notizbuch und einen Stift hervorgezogen. »Erzähl mir, was du gesehen hast. Schnell, bevor es wieder verblasst.«
Doch es hat keinen Sinn. Alles, was übrig bleibt, sind die Patina des Todes, die anklagenden Augen der Sterbenden und die unverrückbare Erkenntnis, dass alles irgendwie meine Schuld war.
Jenny seufzt und legt das Notizbuch beiseite. »Nun, immerhin sieht es so aus, als kämen wir irgendwohin. Wir müssen das unbedingt weiterverfolgen.«
Ein kurzes Klopfen ist zu hören, dann öffnet sich die Tür. Karla, die für ihre Mittagspause nach Hause gekommen ist, blickt uns überrascht an.
»Oh«, sagt sie und registriert die Dunkelheit des Zimmers sowie den starken, überdeutlichen Geruch der Duftkerzen. Nach einem Augenblick streicht sie mit der Hand über ihr Haar. »Ich hab nicht damit gerechnet, dich hier anzutreffen, Pooty«, sagt sie lebhaft. »Äh, Cody hat eine Hausversammlung einberufen. Wegen heute Abend. Wir sehen uns in fünf Minuten unten.«
Nachdem Karla die Tür schnell wieder geschlossen hat, fängt Jenny an zu kichern. »Oops. Da haben wir ja für Aufregung gesorgt.«
»Was meinst du damit?«
Jenny versetzt mir einen spielerischen Schlag. »Gott, Pooty, du musst dich doch wenigstens an ein paar Dinge erinnern! Karla steht auf dich.«
»Steht auf mich?«
»Sie mag dich, du Trottel«, erwidert Jenny grinsend. »Und unser kleines Tête-à-Tête bringt sie zum Kochen.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und werde rot. »Wir sollten jetzt nach unten gehen«, schlage ich vor.
Jenny nickt. »Du hast recht. Dann kann Cody immerhin ein letztes Mal den Rudelführer spielen, bevor John zurückkommt. Lass uns gehen.«
Wir versammeln uns im Wohnzimmer, aber ich bin von den Überbleibseln
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