Angélique - Am Hof des Königs
aufblitzte, die dicht über der Wasseroberfläche dahinschoss.
»Die Seine«, sagte Angélique leise.
Die Seine, das war Paris. War im Wappen der Stadt nicht ein silbernes Schiff abgebildet, das die Verdienste der Kaufleute symbolisierte, denen die Hauptstadt ihren Wohlstand verdankte?
Am Vortag hatte Angélique nur staubige, übel riechende Straßen gesehen. Dieses andere Bild der Stadt versöhnte sie ein wenig mit Paris. Sie fasste mit größerer Zuversicht die Schritte ins Auge, die sie gleich an diesem Tag unternehmen musste. Als Erstes würde sie in die Tuilerien gehen und um eine Audienz bei der Grande Mademoiselle bitten. Sie würde ihr ganz offen
ihre Lage schildern: das Verschwinden ihres Gemahls, das versiegelte Haus und das absolute Stillschweigen, mit dem die ganze Angelegenheit behandelt wurde. Man hatte ihr nicht die geringste Erklärung gegeben. Abgesehen von ihrem Verwandten, dem Prokurator, schien niemand irgendetwas gehört zu haben. Von dieser Freundin hoffte Angélique etwas über die Intrigen zu erfahren, die zu Joffreys Verhaftung geführt hatten. Wer weiß, vielleicht würde sie sogar zum König durchdringen? Der König musste schließlich einen Grund dafür gehabt haben, den Verhaftungsbefehl zu unterzeichnen. Sie würde darauf bestehen, dass er ihn ihr nannte. Und doch fragte sich Angélique immer noch, ob sie sich das Ganze nicht bloß einbildete. Sie vergegenwärtigte sich erneut die Atmosphäre von Saint-Jean-de-Luz, die Fröhlichkeit, den Prunk. Alle dachten nur an ihre Juwelen und den Platz, den sie in der Kathedrale oder bei den Umzügen einnehmen würden. Das einzig Wichtige war, nur ja nichts zu verpassen.
Und plötzlich war Joffreys Stimme für Angélique verstummt. Nichts mehr. Mit einem Mal war sie allein gewesen.
Es klopfte an der Tür.
Hortenses Magd kam mit einem Krug Milch herein.
»Ich bringe die Milch für den Kleinen, Madame. Ich bin selbst gleich heute früh zur Place de la Pierre-au-Lait gegangen. Die Frauen aus den Dörfern kamen gerade erst an. Die Milch in ihren Krügen war noch warm.«
»Es ist lieb, dass Ihr Euch solche Mühe gemacht habt, mein Kind. Aber Ihr hättet das Mädchen schicken sollen, das mich begleitet, und es den Krug heraufbringen lassen.«
»Ich wollte sehen, ob der süße kleine Kerl schon aufgewacht ist. Ich mag kleine Kinder sehr gerne, Madame. Es ist so schade, dass Madame Hortense die ihren zu einer Amme gibt. Vor sechs Monaten hat sie wieder eins bekommen, das ich nach Chaillot
gebracht habe. Jeden Tag fürchte ich, sie könnte kommen und mir sagen, dass es gestorben ist. Die Amme hatte kaum Milch, und ich habe den Verdacht, dass sie es mit in Wasser und Wein getunktem Brot aufzieht.«
Sie war ein molliges, nicht allzu großes Mädchen mit leuchtenden Wangen und unschuldigen blauen Augen. Angélique wurde von plötzlicher Zuneigung zu ihr erfasst.
»Wie heißt Ihr?«
»Barbe, Madame, zu Euren Diensten.«
»Nun, Barbe, ich habe mein Kind in der ersten Zeit selbst gestillt. Ich hoffe, er wird ein kräftiger, gesunder Junge werden.«
»Nichts ist für ein Kind besser als die liebevolle Sorge seiner Mutter«, entgegnete Barbe in belehrendem Ton.
Florimond wachte auf. Mit beiden Händen klammerte er sich an den Rand seiner einfachen Wiege, setzte sich auf und fixierte mit seinen funkelnden schwarzen Augen das neue Gesicht.
»Was für ein hübscher kleiner Schatz, du goldiges Kerlchen, guten Morgen, mein kleiner Fratz!«, sang das Mädchen leise vor sich hin, während es den vom Schlaf noch feuchten Jungen hochnahm.
Sie trug ihn ans Fenster, um ihm die Boote, die Möwen und die Körbe voll Obst zu zeigen.
»Wie heißt der kleine Hafen da hinten?«, fragte Angélique.
»Das ist der Hafen von Saint-Landry, der Obsthafen, und dahinter kommt die Rote Brücke. Sie führt auf die Île Saint-Louis. Gegenüber wird auch viel ausgeladen, da gibt es einen Heuhafen, einen Holzhafen, einen Kornhafen und einen Weinhafen. Diese Waren interessieren die Herren aus dem Rathaus ganz besonders, das ist das schöne große Gebäude dort am anderen Ufer.«
»Und wie heißt der große Platz davor?«
»Das ist die Place de Grève.«
Barbe kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.
»Heute Morgen sind viele Leute auf dem Platz. Da ist bestimmt wieder einer aufgehängt worden.«
»Aufgehängt?«, wiederholte Angélique entsetzt.
»Ja, auf der Place de Grève finden die Hinrichtungen statt. Von meinem Fenster gleich hier drüber schaue
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