Angélique - Am Hof des Königs
sprechen, und die Ärmsten seiner Untertanen aufgefordert, sich unmittelbar an ihn zu
wenden, wenn sie Opfer der Ungerechtigkeit ihrer Nachbarn oder auch der Richter geworden waren. Der König würde persönlich über das Urteil befinden, und seine Entscheidung sollte sich über die tausend Spitzfindigkeiten der Gerichtsverfahren und Gesetze hinwegsetzen, die den Unschuldigen niederzudrücken drohten.
In Vincennes war Kardinal Mazarin zu Hause. Er hatte sich durch einen Architekten namens Le Vau prunkvolle Gemächer im Schloss ausstatten lassen. Seit er mit gesundheitlichen Beschwerden zu kämpfen hatte, hielt er sich am liebsten dort auf, denn er behauptete, dass die Luft dort für ihn in jeglicher Hinsicht besser sei als in Paris.
In der Politik bedarf es so wenig, um innerhalb weniger Minuten zu verlieren, was man unter größten Mühen errungen hat. Nachdem er mit seinem Tross fast zwei Jahre lang kreuz und quer durch Frankreich gereist war, nach Verhandlungen, Vereinbarungen, Ratifizierungen, Vorschlägen und Ablehnungen weiterer Änderungen, nach einer Diplomatie der kleinen Schritte, die sowohl vorwärts als auch rückwärts geführt hatten, stand er nun kurz davor, diesem »so aufrührerischen, wankelmütigen« Volk von Paris das glorreiche Ergebnis seiner wagemutigen Strategie zu präsentieren, die ihrem Land den Frieden sichern sollte: Maria Theresia, die Tochter des spanische Königs Philipp IV. und neue Königin von Frankreich.
Wer hätte sich nach so vielen Unruhen, so vielen unverzeihlichen Verbrechen und so viel erbittertem Hass vorstellen können, dass es je zu diesem Moment kommen sollte?
In Vincennes bereitete sich die um den Kardinal versammelte königliche Familie auf den Tag des siegreichen Einzugs in die Hauptstadt vor. Diesen Freudentag! Den Tag der »großen Liebe« zwischen so vielen unterschiedlichen Herzen, die alle den erhabenen Augenblick eines gemeinsamen Glücks, einer einzigartigen Begeisterung teilen und auskosten würden, diesen
Moment einer Verbundenheit, mit der die Menschen in ihrem Streben nach dem Ideal und nach der Verwirklichung ihrer liebsten, geheimsten Träume nur allzu selten belohnt werden.
Und so beherrschte in diesen letzten Augusttagen des Jahres 1660 der feierliche Einzug des Königs in Paris, seine Hauptstadt, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Mauern alle Gedanken und Gefühle.
Kapitel 22
B ei dieser Gelegenheit kam es auch zu einer Annäherung zwischen Angélique und ihrer Schwester. Eines Tages betrat Hortense mit dem süßesten Lächeln, dessen sie fähig war, Angéliques Zimmer.
»Stell dir vor, was passiert ist«, rief sie. »Erinnerst du dich an Athénaïs de Tonnay-Charente, meine liebe alte Schulfreundin aus Poitiers?«
»Nein, beim besten Willen nicht.«
»Das macht nichts. Jedenfalls ist sie in Paris, und da sie immer schon eine begnadete Intrigantin war, ist es ihr innerhalb kürzester Zeit gelungen, sich mit verschiedenen hochgestellten Persönlichkeiten bekanntzumachen. Um es kurz zu machen, für den Tag des Einzugs wurde sie ins Hôtel de Beauvais eingeladen. Und das liegt unmittelbar an der Rue Saint-Antoine, wo die Parade beginnt. Natürlich werden wir nur aus den Fenstern der Dachkammern schauen können, aber das heißt nicht, dass wir von dort oben schlecht sehen werden, im Gegenteil.«
»Wieso sagst du ›wir‹?«
»Weil sie uns eingeladen hat, dieses Geschenk des Himmels mit ihr zu teilen. Sie wird ihre Schwester und ihren Bruder mitbringen und noch eine weitere Freundin aus Poitiers. Alles in allem eine kleine Kutsche voller Poiteviner. Ist das nicht nett?«
»Wenn du dazu auf meine Kutsche gehofft hast, muss ich dich enttäuschen. Du weißt doch, dass ich sie verkauft habe.«
»Ich weiß, ich weiß. Wir brauchen deine Kutsche gar nicht. Athénaïs wird ihre eigene mitbringen. Sie ist bloß ein bisschen
heruntergekommen, denn ihre Familie ist ruiniert. Vor allem, da Athénaïs recht verschwenderisch lebt. Ihre Mutter hat sie mit einer Kammerfrau, einem Lakaien und dieser alten Kutsche nach Paris geschickt und sie angewiesen, so schnell wie möglich einen Ehemann zu finden. Und das wird sie auch schaffen, sie gibt sich große Mühe. Aber, nun ja … für den Einzug des Königs … Sie hat mir zu verstehen gegeben, dass sie keine passenden Kleider hat. Verstehst du, diese Madame de Beauvais, die uns eines ihrer Dachfenster überlässt, ist nicht irgendjemand. Angeblich sollen sogar die Königinmutter, der Kardinal und alle
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